„Hast du das Buch Reserve von Prinz Harry gelesen?“ frage ich eine Kollegin und Freundin. „Auf keinen Fall, wie kommst du denn darauf, dass ich sowas lese?“ war ihre Antwort. Und dann hole ich aus. Der Tod von Prinzessin Diana am 31. August 1997 war der erste große öffentliche Tod, an den ich mich erinnern kann. Wo warst du, als du von ihrem Unfalltod erfahren hast? Ähnlich wie beim 11. September 2001 kann ich das sehr genau sagen: Wochentag, Tageszeit, wo ich war, wie ich es erfahren habe, wer bei mir war.
Und dann das Kärtchen auf dem Sarg, auf dem Mummy steht
Das Blumenmeer, das Lied „Candle in the Wind“ von Elton John. Und sofort erscheint mir auch das Bild am Beerdigungstag, als die kleinen Kinder Prinz William und Prinz Harry hinter dem Sarg ihrer Mama herlaufen (müssen). Oben auf dem Sarg steht das Kärtchen mit dem Wort: Mummy.
Die Kinder William und Harry sind damals 15 und 12 Jahre alt. Harry erzählt – jetzt 25 Jahre später – in der Netflix-Dokumentation, dass sie nach dem Tod der Mutter zwei Hüte getragen hätten: „Den zweier trauernder Söhne, die weinen und ihre Trauer verarbeiten wollen, weil sie ihre Mutter verloren haben und den königlichen Hut: Keine Gefühle zeigen, rausgehen, Hände schütteln.“ Kurz später sagt er: „Die Erwartung, uns beide in der Öffentlichkeit zu sehen, war für uns beide schwierig.“ Die Überforderung dieser zwei Rollen ist in den Originalaufnahmen sichtbar. Gefühle müssen abgespalten werden, um zu funktionieren.
Wenn die Welt beim Trauern zuguckt
Die Trauerzeremonie von Lady Di wurde in 187 Ländern ausgestrahlt. Allein im britischen Fernsehen lag die Einschaltquote bei bis zu 32,1 Millionen Zuschauern. Weltweit saßen zweieinhalb Milliarden Menschen vor den Bildschirmen. Die ganze Welt konnte dabei zugucken, wie die Kinder die trauernden Menschen – nach Protokoll – begrüßt und höflich Hände geschüttelt haben, wie sie Erwachsenen Trost gespendet, Kondolenzgeschenke und Blumen entgegengenommen und einfach gelächelt haben.
Bohana-Netzwerkpartnerin und Krisencoachin Pia Schnurr hat sich die Szenen angesehen und analysiert: „Da sind zwei Kinder, die ihre eigene Trauer nicht öffentlich zeigen dürfen und die Emotionen von Erwachsenen Menschen aushalten müssen. Fremde Menschen, die ihre Mutter nicht gekannt haben, aber weinen dürfen, öffentlich trauern dürfen und das auch einfach tun. Als Mama von zwei Kindern, die bedürfnisorientiert im Leben begleitet werden, schmerzt es mich sehr das zu sehen. Sie hätten sehr sicher einen Schutzraum gebraucht.“
Erwartungen an Kinder im Trauerfall
Sehr oft erreicht uns die Frage, ob man Kinder mitnehmen sollte zu einer Beerdigung. Wir beantworten die Frage in der Regel immer gleich: Ja, denn die gute Begleitung der Kinder ist wichtig. Lea Gscheidel, eine bedürfnisorientierte Bestatterin aus dem Bohana-Netzwerk, hat mir einmal erzählt, dass sie Familien mit Kindern Extra-Zeit für einen ganz ruhigen, sehr persönlichen Abschied einräumt. Zeit, in der die Kinder unbeobachtet sein können, Fragen stellen können, ihren eigenen Raum haben. Diese Form der Begleitung empfinde ich als so wertvoll für alle Beteiligten. Eine gute Begleitung ist auch für die Eltern wichtig. Unsicherheiten, Tränen zeigen – was mute ich meinem Kind damit zu.
Familientrauerbegleiterin und Bohana-Netzwerkpartnerin Ingrid Stork rät Eltern, die sich in einer solchen Situation unsicher fühlen, sich nicht zu verstellen. „Zusammen trauern ist das Stichwort. Sie dürfen sich als Eltern in einer traurigen und belastenden Situation authentisch zeigen. Sie dürfen weinen – auch Papas, Opas und Onkel. Es kostet so viel mehr Kraft, den Kindern eine heile Welt vorzuspielen, wenn sie grade nicht heil ist. Außerdem spüren Kinder, wenn in ihrem Umfeld etwas passiert – auch wenn nicht darüber gesprochen wird. Kinder in solchen Situationen anzulügen, zu sagen, dass – entgegen ihrem Gefühl – alles in Ordnung sei, lässt Kinder das Vertrauen in ihre Intuition schwächen oder ganz verlieren.“
Trauer findet vielfältig in unserem Alltag statt, ohne dass es uns bewusst ist
Ingrid Stork berät Eltern, Kitas und Schulen – wie Trauer gelebt und selbstverständlicher erlebt werden kann. Sie sagt: „Trauer findet vielfältig in unserem Alltag statt, ohne dass es uns bewusst ist: bei Scheidung, Streitereien, Verlust des Haustieres, Umzug, Umbrüchen in Kita & Schule – Kinder erfahren immer wieder traurige Momente und brauchen einen guten und ehrlichen Umgang damit.“
„Hinhören, Zeit nehmen, Raum geben und eine achtsame und klare Sprache sind ganz wichtige Bausteine für einen guten Umgang mit Kindern, wenn jemand stirbt.“
Trauerbegleiterin Ingrid Stork
„Beschwere und erkläre dich nie!“ – ein fataler Leitsatz im englischen Königshaus
Kommen wir zurück auf Prinz Harry, die Trennung seiner Eltern und der Tod seiner Mutter. Allein das sind zwei Riesenbrocken, die man als Kind zu verkraften hat. Und das in einem Umfeld, das nicht bedürfnisorientiert handelt bzw. handeln kann, weil es das Protokoll nicht vorsieht, dem trauernden Kind einen Schutzraum einzuräumen. In Interviews erzählen William und Harry davon, dass die Queen, Prinz Philipp und Prinz Charles hinter verschlossenen Türen für sie da waren. „Never explain, never complain“ ist der oberste Leitsatz im englischen Königshaus. Das Bild nach außen steht über allem anderen. Das haben die Prinzen William und Harry nie anders kennenglernt. Und die Erwachsenen um sie herum waren keine Vorbilder für den guten und bedürfnisorientierten Umgang mit Trauer.
In einem Familiengefüge hängt alles miteinander zusammen – natürlich auch in royalen Familien
Nicht erst seit der Veröffentlichung seines Buches bildet sich Jede:r eine Meinung über Harry. Ich gehe davon aus, dass auch der Bruch mit der Familie mit viel Trauer verbunden ist. Und am Ende habe ich persönlich einfach nur Mitgefühl für alle Seiten. In einem indianischen Sprichwort heißt es: „Urteile nie über jemand anderen, bevor du nicht einen Mond lang 1000 Schritte in seinen Mokassins gegangen bist.“ Diese Haltung finde ich so wertvoll bei der Bewertung von Trauernden – und besonders bei Menschen, die in der Öffentlichkeit stehen. Meine Freundin hat Harrys Buch inzwischen zwar nicht gelesen, aber unser Gespräch darüber hat sie tief bewegt. So hätte sie das noch gar nicht gesehen. Doch so ist eben: Hinter jedem Konflikt steckt ein unerfülltes Bedürfnis.
Über die Autorin
Anne Kriesel
Gründerin von Bohana