Über das Buch „Ich wollte einen Hund – Jetzt habe ich einen Vater“ von Katy Karrenbauer

Wie wir durch die Demenz unsere Geschichte neu erzählen

Zurzeit leben in Deutschland rund 1,6 Millionen Menschen, die an Alzheimer oder anderen Formen von Demenz erkrankt sind. Jährlich kommen ca. 300.000 Neuerkrankungen hinzu. Was tun, wenn ich „plötzlich“ die Rolle der pflegenden Angehörigen übernehmen muss? Auf diese Frage muss Schauspielern, Sängerin und Autorin Katy Karrenbauer eine schnelle Antwort finden, als ihr Vater von einem Tag auf den anderen auf Pflege angewiesen ist. In ihrem Buch beschreibt Katy Karrenbauer sehr persönlich und sehr ehrlich, wie sie in die emotional herausfordernde Rolle der pflegenden Angehörigen hineinwächst. Sie braucht schnell Antworten auf Fragen und Lösungen für Herausforderungen, vor denen sicher viele in dieser Situation stehen. Wer ist schon darauf vorbereitet, dass die Eltern plötzlich uns Kinder brauchen?

Wenn sich die Rollen umkehren – ein Kraftakt

Für beide Seiten ist es eine Herausforderung, wenn sich das Kräfteverhältnis zwischen Eltern und Kindern ändert. Karrenbauers Vater ist ein sehr erfolgreicher Architekt – frei, unabhängig, weitgereist. Jetzt – mit seiner Demenzerkrankung – geht das alles nicht mehr. Das Laufen wird schwer, die Gedanken, das Erinnern. Karrenbauer unterstützt ihren Vater über die eigenen Grenzen hinaus. Mit ihrem Buch möchte sie pflegenden Angehörigen eine Stimme geben, um darauf aufmerksam zu machen, dass es ein Riesenkraftakt ist, nahestehende Menschen selbst zu begleiten. Das Pflegesystem in unserem Land ist einfach erheblich verbesserungswürdig, um es milde auszudrücken.

Kann ich mich um jemanden kümmern, der sich gefühlt nie um mich gekümmert hat?

Die Beziehung zwischen Katy Karrenbauer und ihrem Vater ist nicht leicht. Katy Karrenbauer fehlt der Vater jahrzehntelang in ihrem Leben. Er war räumlich und emotional nie ganz da und hat wenig Liebe und Interesse entgegengebracht. Sie ist mit einer großen Sehnsucht aufgewachsen: Die Sehnsucht nach einem präsenten Vater, die Sehnsucht danach von ihm gesehen zu werden und die Sehnsucht nach Liebe. Und plötzlich ist sie an einem Punkt in ihrem Leben, an dem sie ihm all das geben soll, was sie ihr Leben lang schmerzhaft vermisst hat. Ihr ist schnell klar, wenn sie es nicht tut, tut es kein anderer, ein Gefühl mit dem sie nicht leben möchte.

Wie viel kann ich als pflegende Angehörige leisten und tragen?

Katy Karrenbauer beschreibt, dass sie den Mangel an Liebe und Aufmerksamkeit kompensiert – durch Geben, viel Geben, immer mehr Geben – um zu gefallen und um die Anerkennung des Vaters zu bekommen. Sie gibt sehr viel auf für diese neue Rolle. Sie erlebt, was viele pflegende Angehörige tagtäglich erleben. Alles dreht sich nur noch um die Pflegebedürftigen. Die Organisation, die Sorgen, das Mitdenken und Vordenken, damit alles läuft – und vor allen Dingen würdevoll abläuft. Es gibt immer weniger Zeit und Kapazitäten für das eigene Leben. Der eigene Freundeskreis kann die Probleme nicht mehr hören. Und immer dabei der Druck: Wenn ich das jetzt nicht mache, dann macht es kein anderer. Denn unser Pflegesystem ist nicht auf Würde und Zeit nehmen ausgerichtet. Und Zeit und Würde ist genau das, was man sich für seine Angehörigen an Lebensende noch wünscht. 

Die gemeinsame Zeit – für Karrenbauer ein Geschenk

Durch die plötzlich in ihr Leben kommende Betreuungsrolle macht Katy Karrenbauer die Erfahrung, dass die Pflege ihres Vaters neben all den Herausforderungen auch ein Geschenk ist. Durch die intensive Zeit mit ihrem demenzkranken Vater, die vielen Gespräche, das Ausräumen des Elternhauses beginnt ein Prozess des Erkennens und Verstehens. Ihr Vater hat sie immer geliebt, aber er konnte es nicht zeigen. Das heilt und macht Beziehung wieder möglich. Sie versteht jetzt ihre eigene Lebensgeschichte besser. Warum sie der Mensch geworden ist, der sie ist mit allen Ecken und Kanten, Stärken und Schwächen und 2 unglaublich starken helfenden Händen. Das erfährt man nur, wenn Eltern einen ehrlichen Einblick gewähren in ihr Leben und unsere Kindheit. Katy Karrenbauer erhält die Chance dazu von ihrem Vater. In meinem Empfinden ist das ein unglaublich großes Geschenk für das Hier und Jetzt und das eigene Weiter.

Katy Karrenbauer macht Mut, Frieden mit der Vergangenheit zu schließen

Mein Buchexemplar ist wild angestrichen und markiert. Es sind viele wertvolle Sätze enthalten, die mich inspiriert haben. Es geht viel um bedürfnisorientierte Lösungen, Mutmacher und Möglichmacher in der Pflege und in der Abschiedsgestaltung. Es steckt so viel Bohana-Spirit in dem Buch: Schöne Beispiele, wie man das Lebensende, Abschiede und Beziehungen am Ende noch gut gestalten kann. Das sind alles Themen, mit denen ich mich sehr verbunden fühle. Insgesamt finde ich das Buch kurzweilig und es hat mich nachdenklich gemacht. Eine Erkenntnis bewegt mich nämlich besonders.

Eltern-Kind-Beziehungen in der Kriegsenkelgeneration sind oft nicht einfach

Beim Lesen wurde mir bewusst, dass wir vermutlich alle in irgendeiner Form auch komplexe Beziehungen zu unseren Eltern haben. Denn die Eltern unserer Eltern waren zumeist traumatisiert durch den Krieg. Und natürlich hat das auch unsere Eltern, ihre Beziehungsfähigkeit und ihren Zugang zu ihren Gefühlen geprägt. Ihre Erfahrungen hatten Auswirkungen auf ihre Möglichkeiten und Fähigkeiten, es anders oder gleich mit uns Kindern zu machen. Unsere Eltern mussten ihre Strategien finden. Und eine Strategie ist sicher nicht selten Abwesenheit gewesen – ein auf vielen Ebenen nicht da sein können und Liebe nicht zeigen zu können. So hat es auch Katy Karrenbauer erlebt.

Meine Inspiration: Briefe an die eigenen Kinder

Katy Karrenbauers Vater hat einen Ordner im Schrank gehabt mit allen Briefen, Kinderfotos und Zeitungsartikeln. Ein Ordner voller Liebe, der Katy Karrenbauer im Hier und Jetzt noch gezeigt hat, wie stolz er war, wie wichtig sie ihm doch war. Er hat sich viele Gedanken gemacht und das bleibt ihr im Herz und der Erinnerung.

Im Laufe meiner Lebenskrisen habe ich mir irgendwann ein Ritual für meine Kinder angeeignet. Ich schreibe zwar kein Tagebuch. Aber: Es gab immer wieder wichtige Entscheidungen, die nicht nur mein Leben betreffen, sondern auch das Leben meiner Kinder. Diese Wegweiser-Entscheidungen musste und wollte ich treffen, obwohl sie auch Trauer mit sich gebracht haben und Veränderung bedeuteten. Dazu schreibe ich Briefe an meine Kinder, in denen ich ihnen zum Zeitpunkt der Entscheidung schreibe, warum ich bewusst so gehandelt habe. So haben sie später einen ehrlichen Einblick in meine Sichtweise und können hoffentlich das ein oder andere Warum für sich klären, wenn ich nicht mehr bin.

Was soll bleiben, wenn ich gehe? Möglichst wenig Fragezeichen.

Über die Buch-Autorin

Katy Karrenbauer Buch

Katy Karrenbauer

Schauspielerin, Sängerin und Synchronsprecherin

Über die Blogartikel-Autorin

Anne Kriesel

Gründerin von Bohana