All diese Erinnerungen sind in mir
Ich steige voll bepackt mit Einkaufstüten die Treppen zu meiner Wohnung hoch. Plötzlich trifft es mich wie ein Blitz: Ich fühle mich wie die Zehnjährige, die mit ihrem Schulranzen und Turnbeutel die Treppen zu der Wohnung ihrer Oma emporstieg. Kurz vor ihrer Tür schlug mir jeweils schon der Zigarettenrauch entgegen, meist in Kombination mit Essensduft.
Meine Oma war Kettenraucherin – und es sei mal dahingestellt, was das mit meiner jungen Lunge gemacht hat. Der Geruch ist untrennbar mit ihr verbunden. Die Erinnerungen machen sich mit einer Selbstverständlichkeit breit: Vor meinem inneren Auge tauchen Bilder auf, wie meine Oma und ich gemeinsam vorm Fernseher sitzen und meine damalige Lieblingsserie „Drei Engel für Charlie“ schauen. Ich erinnere mich an Eierkuchen und Rahmkohlrabi, an Cappuccino, der nur richtig italienisch sein durfte und an Spaghettieis.
All diese Erinnerungen sind in mir, meist versteckt an einem sicheren Ort. Irgendwann bahnen sie sich ihren Weg in mein Bewusstsein wie an diesem Tag ganz plötzlich und unverhofft.
Warum mich diese Erinnerungen in meinem Treppenhaus ereilen? Einer meiner Nachbarn ist ein starker Raucher und der Zigarettenduft ist im ganzen Treppenhaus präsent. Auch wenn es für die meisten ein nicht angenehmer Geruch ist oder wie meine fünfjährige Nichte sagte: „Hier stinkt‘s!“. Der Geruch von abgestandenem Rauch in der Wohnung ist für mich ein Zugang zu meinen Erinnerungen und ein Stück meiner Oma.
Gestaltung von Erinnerungsstücken
Meine Erinnerungen an meine Oma und die gemeinsame Zeit nach der Schule wurden hier durch einen speziellen Geruch ausgelöst. Gerüche sind nicht immer präsent. Etwas verlässlicher und ein Zugang zu unseren Erinnerungen können Erinnerungsstücke sein.
Für mich gibt es zwei Arten von Erinnerungsstücken: Es gibt die Erinnerungsstücke, die Teil der gemeinsamen Geschichte waren. Das sind zum Beispiel Erbstücke oder die letzten Dinge, die die verstorbene Person berührt hat. Außerdem gibt es die selbstgestalteten Erinnerungsstücke. Die Erinnerungen dienen als Grundlage. Die Gestaltung des Erinnerungsstücks ist ein kreativer Prozess, in dem es darum geht dem Flüchtigen eine Form zu geben und die Erinnerung so zu konservieren. Das kann auf ganz unterschiedliche Arten geschehen.
Was ist meine Ausdrucksform?
Ein erster Schritt bei der Gestaltung von Erinnerungsstücken ist das Finden der ganz persönlichen Ausdrucksform. Dazu kann man sich selbst fragen: Was liegt mir am nächsten und geht mir leicht von der Hand? Das kann Malen, Basteln, Fotografieren, Bauen, Komponieren und noch vieles mehr sein. Es gibt eine große Auswahl an künstlerischen Formen, in denen man Erinnerungen ausdrücken kann.
Der nächste Schritt ist die Annäherung an die Gestaltung. Diese Fragen sind aus meiner Sicht eine gute Orientierungshilfe:
- Wie kann ich die Erinnerung sichtbar oder erfahrbar werden lassen?
- Was für ein Bild oder Symbol steht für mich für die Erinnerung?
- Welche Dinge müssen unbedingt integriert werden und dürfen nicht fehlen?
Wenn man Antworten auf diese Fragen gefunden hat, kann es in den Gestaltungsprozess gehen.
Film als Erinnerungssammelsurium
In meiner Arbeit als Abschiedsgestalterin benutze ich das Medium Film, um Erinnerungen zu visualisieren. Durch die akustische und visuelle Ebene gibt es viel Gestaltungsraum, eine Vielfalt an Erinnerungen aufzuzeigen.
So können über den Bildschirm Omas Urlaubsfotos vom Gardasee flimmern, wo ihre Liebe zu gutem italienischem Cappuccino entbrannt ist. Enkel:innen und Freund:innen können Anekdoten über die Besuche erzählen. Das Lieblingsrezept kann eingeblendet oder im familiären Kreis feierlich nachgekocht werden. Und als Abspannmusik kann die Titelmelodie von „Drei Engel für Charlie“ mit den Pistolenschüssen laufen. Das würde auf jeden Fall auch zu dem bewegten Leben meiner Oma passen. Durch den Film kann ich in das Sammelsurium von Momenten eintauchen, wann immer ich möchte und meiner Oma nahe sein.
Kraft der Erinnerungen
„Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können.“
Jean Paul
Durch Erinnerungen schaffen wir eine Nähe zu der verstorbenen Person oder der damaligen Zeit für einen kurzen Moment. Manchmal ist es sogar möglich, direkt an die damaligen Gefühle anzudocken. Besonders faszinierend finde ich, wenn sich durch die Erzählung von Erinnerung die Stimmung in einem Raum komplett ändert. Wenn in einem Raum voller Trauer von schönen Erinnerungen erzählt wird, dann leuchten Augen auf und es wird gelacht. In diesem Moment wird der Raum von Liebe und Verbundenheit voll und ganz erfüllt. Das ist für mich die Kraft, die in Erinnerungen steckt.
Diese Kraft spüre ich, wenn mir beim Geruch von Zigarettenrauch in einem Treppenhaus für einen kleinen Moment warm ums Herz wird.
Über die Autorin
Wendy Pladeck
Abschiedsgestalterin auf künstlerischer und pädagogischer Ebene.