„Früher war alles besser!“ Diesen Spruch posaunte uns meine heute 94jährige Mutter gerne ins Ohr, wenn wir mit Tatendrang neue Wege versuchten. Wir wollten in den Siebzigern und Achtzigern vieles anders machen. Zum Glück ist uns das in weiten Teilen auch gelungen. Heute erwische ich mich dabei, zu denken, dass es früher womöglich doch besser gewesen war. Kein Handy, kein Laptop, kein alles immer direkt raushauen und mehr Zeit dazwischen. Das passiert meist, wenn mir wieder alles viel zu viel ist. Synapsenkoller nenne ich das.
Verklärte Vergangenheit
Unser Gedächtnis, dieser Schelm, so sagen es Wissenschaftler, erinnert sich nicht immer faktenbasiert. Unser Gehirn bastelt sich aus allen Puzzleteilen die stimmigste Erinnerung zur jeweiligen Situation. Ist das ‚Erinnerungskunst‘? Nein, natürlich nicht, aber… . Wir hatten zwar kein Handy, dafür aber Stress und Überforderung ohne Ende. Wie habe ich das Programm überhaupt geschafft, frage ich mich immer wieder? Familie, Beruf, kranke Eltern und diese gnadenlose Krankheit? Ich habe es geschafft. Ich durfte erfahren, dass viel mehr Kraft in mir wohnt, als ich mir jemals zugetraut hatte.
Die Erinnerung an diese Zeit erfüllt mich heute mit diesem Hauch von Demut
Damals, 1995 und 1996 gab es noch keine Psychologen auf der Krebsstation. Keine Literatur zum Thema und noch nicht mal eine bezahlte Haushaltshilfe. Privatversicherte bekamen das nicht! Vielleicht ist es heute anders. Wegen der Infektionsgefahr durften mich unsere drei Kinder nicht besuchen. Die Jüngste, gerade zwei Jahre alt, hatte selbst noch kaum Worte und doch verstand sie alles. Sie nannte mich ‚die kleine Mama‘, weil ich so dünn geworden war.
„Ich fahre zum Frühstück nach Paris“, …
… sagte ich gern zu den Kindern, wenn ich in die Klink zur CT-Kontrolle musste. Das klang so viel leichter und fröhlicher. Und ich brachte aus der Cafeteria eine Kleinigkeit für die Kinder mit. Weil ich früher von Reisen gerne was Kleines mitgebracht habe. War ich stationär und/oder in Isolation, dann hatte ich immer einen Kassettenrecorder und das eine Liederbuch unserer Kinder im Gepäck. Nachts, in diesen endlos langen Stunden, die sich wie Kaugummi zogen, habe ich Kinderlieder gesungen und aufgenommen. Das hat mich getröstet. Für die Kinder waren diese Kassetten der Hit.
Meine Stimme war das Beste, was ich meinen Kindern in dieser Zeit von mir schenken konnte
Bevor ich dann im März 1996 zur Knochenmarktransplantation einrückte und damit rechnen musste nicht zu überleben, habe ich eine Extrakassette besprochen. Ich habe meinen Kindern gesagt, wie sehr ich sie liebe und dass keiner Schuld daran hat, sollte ich dieses Wagnis nicht überleben. (Siehe auch: „Der große Abflug, Patmos, 2016, S. 29.) Heute hätte ich ein Handy und könnte Sprachnachrichten schicken. Heute gibt es so viel wundervolle Unterstützung für junge und alte kranke Eltern. Es gibt Netzwerke und Hilfe. Heute ist es so viel besser geworden.
Wir müssen selbst an die wichtigsten Dinge denken und sie vorbereiten
Wir sollten diese wichtigen Dinge nicht auf die lange Bank schieben. Damit meine Erinnerung noch Sinn entfaltet, möchte ich alle ermutigen: Konserviert eure Stimme für eure Kinder, egal wie, sollte euch etwas zustoßen. Damit eure Kinder nicht den Spruch der Mutter vom Anrufbeantworter kopieren müssen, weil das die einzige Nachricht ist, die möglicherweise übrig geblieben ist. Dem Sohn meiner Freundin ist es so ergangen.
Traut euch einmal den Fall X durchzuspielen
Fühlt euch einmal in eure Kinder ein, die euch vermissen werden. Darüber hinaus empfehle ich ein Video mit den eigenen Wünschen, die Patientenverfügung betreffend zu verfassen. Dies ist für den Notfall, sowohl für einen selbst, als auch für jene, die eine Verfügung durchsetzen müssen eine sehr wirkungsvollste Maßnahme, die schnell zu Hand ist.
Es hilft allen, die letzte Reise gut vorbereitet anzutreten, wann immer sie kommen mag. Dazwischen bleibt dann ganz viel Zeit für ein unbeschwertes und reiches Leben.
Von hinten denken heißt, das Schwere dann zu tun, wenn es noch leicht ist.
Sabine Mehne
Sabine Mehne ist Autorin, Rednerin und Mitbegründerin des Netzwerks Nahtoderfahrung e.V. Vor ihrer Krebserkrankung 1995 war sie als Physiotherapeutin und systemische Familientherapeutin in eigener Praxis tätig. Die Darmstädterin wirbt für eine neue Form der ‚Ars moriendi‘ – einem angstfreien Umgang mit Tod und Sterben im 21. Jahrhundert. Die „Botschafterin für Nahtoderfahrungen“ hat in den letzten 20 Jahren zahlreiche Vorträge und Lesungen u.a. mit dem Kardiologen und Nahtodforscher Pim van Lommel gehalten. Aus gesundheitlichen Gründen hat sich Sabine Mehne zurückgezogen und kann ihre Öffentlichkeitsarbeit derzeit nur – ohne Reisetätigkeit – realisieren.