Märchenpädagogik in der Familientrauerbegleitung

Schneewittchensarg

Und wenn sie DOCH gestorben sind?!

Märchenpädagogik in der Familientrauerbegleitung

Heldinnen und Helden innerhalb der Märchenliteratur kennen vielerlei Herausforderungen, wachsen daran und üben somit das Leben. Genau das tun Trauernde auch. Immer wieder aufs Neue – obwohl das Kräfte zehrend und Energie raubend ist. Weil es so etwas wie ein Ziel, einen Wunsch oder eine Hoffnung gibt: Nach einem Verlust wieder im Leben Fuß zu fassen!

Wie funktioniert die Verknüpfung dieser Bereiche?

Innerhalb dieser Thematik verbinden sich drei separate Bereiche: Märchen, Pädagogik und Familientrauerbegleitung. Jedes Feld für sich allein ist bereits sehr vielfältig und komplex angelegt. Es erfordert nicht nur die Begabung, Kreatives in die Tat umzusetzen, sondern – und hier liegt der Knackpunkt – ein fundiertes Hintergrundwissen zu haben. Denn es kommt darauf an, das Wissen mit den kreativen Möglichkeiten und Methoden bewusst und begründet verknüpfen zu können. Wer trauert, ist manchmal in einem Zustand eines gefühlt hundertjährigen Schlafs. Ohnmächtig, von einem Stich getroffen, ausgeliefert und nicht selten von der Außenwelt abgeschottet. Infolge der Vielzahl von sämtlichen menschlichen Gefühlen, Konflikten und Erlebnissen, die in den Überlieferungen verarbeitet sind, kann das Märchen als Begleiter fungieren – einerseits als kreativer Unterhaltungsaspekt, andererseits als Hilfestellung in Zeiten der Trauer für Angehörige. Das Märchen weiß, wie man das Fremde zähmt, das Seltene hütet, das Merkwürdige probiert, das Ausweglose wagt. Und genau hier setzt die Verknüpfung von Märchen, Pädagogik und Familientrauerbegleitung an.

Ein märchenhaftes Beispiel

Im Märchen „Schneewittchen“ heißt es: „… das können wir nicht in die schwarze Erde versenken.“ Die sieben Zwerge sind noch nicht bereit, die Prinzessin zu beerdigen – und bauen daraufhin einen gläsernen Sarg. Im Grunde genommen ist es eine offene Aufbahrung, die das Märchen abbildet. Die Zwerge halten Wache, weinen, schweigen, trauern. Sie haben immer wieder die Möglichkeit, Schneewittchen anzusehen und sich die Zeit zu nehmen, die sie für den Abschied brauchen. Dieser Moment ist absolut einmalig und unwiederbringlich. Diese – mit Ritualen einhergehende – Begegnung mit der*m Verstorbenen ist ausschließlich innerhalb eines relativ kurzen Zeitrahmens erlebbar. Und der Anblick eines Menschen kurz nach seinem Tod kann für viele Angehörige eine große Kraftquelle darstellen, nicht nur in diesem Moment, sondern auch im Nachhinein.

In Wirklichkeit

Innerhalb einer Begleitung kam ich in die Situation, die neunjährige Karla kennenzulernen. Ihre vier Jahre jüngere Schwester war gerade gestorben – und schon vor ihrem Tod hatte ich mit der Familie hinsichtlich des anstehenden Sterbeprozesses zu tun. Nun war der Tod eingetreten und die Kleine wurde sehr liebevoll zuhause aufgebahrt. Sie sah aus, als ob sie schläft – ganz ruhig und sogar rosig. So nahmen Karla und ihre Eltern in meinem Beisein dort von ihr Abschied. Als die Eltern irgendwann kurz den Raum verließen, blieb Karla bei mir im Zimmer der aufgebahrten Schwester. Als ihre Eltern weg waren, stand sie vor ihrem Stuhl auf und ging direkt zu ihrer Schwester ans Kinderbett. Sie schaute erst zu ihr, dann zu mir und sagte ganz vorsichtig: „Der Scheitel ist falsch!“ Ich war irgendwie perplex über diese sehr pragmatische Anmerkung in dieser Situation und musste mich kurz sammeln, ehe ich – genauso vorsichtig –sagte: „Magst ihn richtig kämmen?“ Und weil sie das sofort bejahte, holte ich die Bürste ihrer Schwester. Sie nahm die Bürste an sich, beugte sich über die tote Fünfjährige und begann ganz vorsichtig, ihren Haarscheitel auf die andere Seite zu kämmen. Abschließend strich sie lächelnd mit ihren Händen über den Kopf der Schwester: „So, jetzt passt alles!“ Ja, nun passte alles. Es war etwas in Ordnung gebracht, was vorher nicht stimmte. Ein letzter Dienst, den sie ihrer Schwester erwiesen hat. Ein kurzer Moment an sich, aber sie wird sich ihr Leben lang daran erinnern. Eine Situation mehr, die beweist, wie wichtig, schön, anrührend, kraftvoll und besonders der Abschied am Totenbett – auch für ein Kind – sein kann.

Warum haben Märchen eine so heilsame Wirkung?

Märchen sind Wegweiser, beschreiben Wege, schildern Lasten und Schwierigkeiten. Märchen schenken Mut, sich eigene Muster bewusst zu machen. Sie zeigen die ICH- Entwicklung eines Menschen, der zu sich selbst findet. Sie vermitteln den Mut, sich auf das Wagnis des eigenen Lebens einzulassen und bedingungslos der Wahrheit des eigenen Herzens zu folgen. Außerhalb unserer Wahrnehmungskanäle will das Verborgene sich offenbaren. An den Tagen, an denen das Nicht-Greifbare in das Nicht-Sichtbare entschwindet, scheint sich die Wirklichkeit aufzulösen. Wir nehmen wahr! Erkennt ein Mensch an den Spuren eines Märchens seinen eigenen, individuellen Lösungsweg, ist Heilung möglich.

So wurden Märchen zu Brücken zwischen den Welten. Wer Märchen hört und sich selbst dabei einbezieht, kann in dem Hören seinen eigenen Wahrheiten näherkommen. Es ist der Beginn einer Entdeckungsreise ins Selbst und die Möglichkeit, dieses Selbst in die Gemeinschaft eines neuen Bewusstseins einzubetten. Märchenbilder sind Seelenbilder. Es ist so lebensnotwendig, diese inneren Bilder zu haben und zu schulen. Es ist wie frischer Regen auf die ausgedörrte Wüste. Denn es weckt unsere eigenen Bilder, unser eigenes Innenleben, unser „Kino im Kopf“, kurz: Märchen stärken unsere Phantasie und Kreativität!

Gebt euch und geben Sie sich selbst, den in punkto Ein-Bildung oft vernachlässigten Erwachsenen, auch diese Chance, diesen Balsam!

„Märchen sind nicht nur dazu da, um ein Kind zum Einschlafen zu bringen,

sondern auch, um den Erwachsenen zu wecken.“

Über die Autorin

Alexandra Eyrich Bohana Netzwerk

Alexandra Eyrich
Familientrauerbegleiterin und Gründerin der Trauerinitiative ZwischenGeZeiten für Kinder, Jugendliche & Familien

Literaturempfehlung:

Märchen und Geschichten zeigen Mittel und Wege auf, wie wir auf gute Art und Weise dem ewigen Kreislauf unseres Daseins mit all seinen Herausforderungen begegnen können. Die Märchen und ihre Heldenfiguren wissen, wie man das Schmerzhafte überlebt, das Seltene hütet, Gefahren zähmt, das Fremde probiert und Auswegloses wagt… und sind dadurch in der Lage, neu gestärkt ihren Lebensweg weiter zu beschreiten. All das wird ebenfalls bedeutsam, wenn man sich mit dem Thema Tod und Trauer auseinandersetzt.

  • Zahlreiche Bezüge zur Sterbe- und Trauerbegleitung anhand ausgewählter Szenen, welche in interpretatorischen Zügen in Verbindung mit Menschen und Situationen im Trauerkontext gebracht werden.
  • Einblicke in meine jahrelange Praxis seit 2005 mit trauernden Kindern, Teenagern, Jugendlichen, jungen Erwachsenen und Familien. Jede Geschichte beruht auf einem realen Begleitungsprozess und ist so eingesetzt, dass sie jeweils das Pendant zu den szenischen Märchenmotiven darstellt.
  • Reich bebilderte Hinweise und kreative Impulse für die Praxis
  • Weiterführende Informationen zur Erzählkunst und (Familien-) Trauerarbeit