November 2020.
Die Corona Pandemie hat uns alle fest im Griff. Was gestern noch gegolten hat, kann heute schon wieder ganz anders sein. Flexibilität und Kreativität sind gefragt. Denn dem Tod ist es total egal, wie die äußeren Umstände sind, er kommt wann er will. Plötzlich ist er da. Und die Zugehörigen müssen mit der Ausnahmesituation irgendwie klarkommen.
Was bedeutet in diesem Zusammenhang der Begriff Zeit? Zeit ist eine für uns Menschen sehr wertvolle Ressource, mit der wir verantwortungsvoll umgehen sollten. Wenn die Lebenszeit eines Menschen zu Ende gegangen ist, brauchen die, die zurückbleiben ihre eigene, ganz persönlich bemessene Zeit, um den Tod begreifen zu können.
Nur 20 Minuten für die Trauerfeier
Ortstermin, ein Städtischer Friedhof in München. Eine Trauerfeier mit anschließender, zeitversetzter Seebestattung steht an. Der Bestatter teilt mir erst zwei Tage vor der Trauerfeier mit, wir hätten in der Trauerhalle insgesamt nur 20 Minuten Zeit. Das Buchen von Doppel- oder Mehrfachzeiten sei aktuell nicht mehr möglich. Ich schlucke kurz, rede mit den Zugehörigen, die fassungslos zuhören. Ich kürze die fertige Rede um ein Drittel, höre mir die gewünschten Musikstücke noch einmal an, die Stoppuhr läuft mit. Es ist, wie es ist. Auch in diesem eng gesteckten Rahmen werde ich die Feier so menschlich und würdevoll wie nur möglich gestalten.
Nieselregen, Herbstkälte, alles ist grau. Eine überschaubare Gruppe von Trauergästen steht vor der Trauerhalle. Obwohl es die erste Feier an diesem Morgen ist und die Halle völlig leer ist, dürfen weder die Bestatter mit dem Sarg durch den Hintereingang noch die Familie etwas früher in die Halle. Die Friedhofsangestellten schauen genau auf die Uhr. Erst zur gebuchten Zeit öffnen sich die Türen.
Die Bestatter haben knapp fünf Minuten Zeit, um den Sarg in die Halle zu schieben, das Bild des Verstorbenen aufzustellen, den Blumen- und Kerzenschmuck zu verteilen. Die Stühle in der Halle stehen einzeln, im vom Hygienekonzept festgelegten Abstand. EINZELN, das heißt nicht einmal der Kernfamilie wird gewährt, nebeneinander zu sitzen, um sich während der Abschieds-Zeremonie zu halten und zu trösten.
Den Moment des Abschieds würdigen
Jeder sitzt alleine für sich. Während ich die Trauerrede halte, verweigere ich den Blick auf die Uhr und konzentriere mich auf die Menschen um mich herum. Ich habe große Mühe, langsam zu sprechen, mich nicht hetzen zu lassen. Glücklicherweise sind die von der Familie gewählten Musikstücke recht kurz. Kaum ist der letzte Trauergast zur Verabschiedung am Sarg vorbeigeschritten, gehen die Türen auf. Und die Bestatter der nächsten Trauerfeier schieben schon den nächsten Sarg herein.
Ein kleiner Trost: Die Familie hat glücklicherweise einen Garten und lädt im Anschluss die Trauergäste zu einem privaten Umtrunk ein.
„Es gibt ein großes und doch ganz alltägliches Geheimnis. Alle Menschen haben daran teil, jeder kennt es, aber die wenigsten denken je darüber nach. Die meisten Leute nehmen es einfach so hin und wundern sich kein bisschen darüber. Dieses Geheimnis ist die Zeit. Es gibt Kalender und Uhren, um sie zu messen, aber das will wenig besagen, denn jeder weiß, dass einem eine einzige Stunde wie eine Ewigkeit vorkommen kann, mitunter kann sie aber auch wie ein Augenblick vergehen – je nachdem, was man in dieser Stunde erlebt. Denn Zeit ist Leben. Und das Leben wohnt im Herzen.“
(Eine meiner Lieblingsstellen aus dem Buch „Momo“ von Michael Ende, 1973)
Corona mag in unser aller Leben und Sterben so einiges durcheinanderbringen, aber ganz gewiss nicht die Zeit. Die aus Momo wohlbekannten ‚Grauen Herren‘, die Zeitdiebe unter uns, die gab es auch schon vorher. Nicht ein Virus, sondern der Mensch bestimmt über die Dauer, über die Verwendung von Zeit. Plötzlich scheint es allerdings eine Legitimation zu geben, die der Begrenzung von Zeit, diesem nicht nur im Kontext von Trauerfeiern unmenschlichem Verhalten, den Weg ebnet.
„Ob einer seine Arbeit gern oder mit Liebe zur Sache tat, war unwichtig – im Gegenteil, das hielt nur auf. Wichtig war allein, dass er in möglichst kurzer Zeit möglichst viel arbeitete.“ (Zitat aus: Momo von Michael Ende, 1973)
Es geht auch anders …
Innerhalb von 24 Stunden habe ich beide Varianten erlebt: Die oben beschriebene sehr kurze Trauerfeier in der Trauerhalle auf dem Friedhof. Und einen Tag zuvor eine Trauerfeier in der hauseigenen Trauerhalle eines Bestattungsunternehmens mit ausreichend Platz und genug Zeit.
Dauerregen, Herbstkälte, alles ist nass. Keine 300 Meter Luftlinie vom Städtischen Friedhof entfernt befindet sich ein privates Bestattungsunternehmen mit eigener Trauerhalle. Auch hier gelten die Corona-Hygieneregeln. Die Stühle sind in Absprache mit den Zugehörigen nach Anzahl der Personen pro Kernfamilie in kleinen Grüppchen aufgestellt und nach den vorgegebenen Abständen exakt ausgerichtet. Die Familien sitzen zusammen. Sie können sich an Händen halten, in den Arm nehmen, gemeinsam weinen und sich in dieser emotional extremen Situation gegenseitig unterstützen.
Genug Zeit für individuelle Abschiedszeremonien
Für jede Trauerfeier ist ein Zeitfenster von 120 Minuten reserviert. Die Halle wird mit viel Liebe zum Detail geschmückt. Die Trauerfeier samt Rede und Zeremonie kann in Würde und Muße vonstattengehen. Keiner schaut auf die Uhr. Die Zugehörigen haben so viel Zeit, wie es braucht. Die zahlreichen ausgewählten Musikstücke werden bis zu Ende gespielt. Auch bleibt viel Zeit für Stille und Nachspüren.
Meister Hora ist in Momos Geschichte ja der Hüter der Zeit. Er teilt allen Menschen ihre Lebenszeit zu. Er lebt außerhalb der Zeit im Nirgendhaus. Um das Nirgendhaus herum muss man alles ganz langsam tun, um schnell bzw. gut voranzukommen.
Mehr Freiraum bei Trauerfeiern draußen in der Natur
Naturbestattungen, sei es im Begräbniswald oder auch unter einer Birke auf einem Städtischen Friedhof, bieten die Möglichkeit sich aus den engen Zeitfenstern zu lösen. Bei Wind und Wetter sind es nicht die Minuten die den Takt vorgeben, die Zeit wird zum dehnbaren Begriff. Es dauert ganz einfach so lange, wie es dauert. Fertig, auch wenn der ein oder andere Friedhofsangestellte ein wenig unruhig werden sollte. Das lässt sich mit ein paar freundlichen, klaren Worten vorher ankündigen und dann auch aushalten.
Je besser man vor dem Tod informiert ist, desto wohlbehaltener kommt man durch diese schwierige Zeit.
Wer gut durch die Zeit des Abschieds und der Trauer kommen will, sollte sich frühzeitig informieren, wo, wie und was im Trauerfall alles möglich ist. Und das gilt nicht nur für Bestattungen in Zeiten von Corona. Welch ein Glück, das immer mehr Menschen bereit sind, über den Tod zu reden. Als unkonventionelle Trauerrednerin und Anbieterin der von mir gestalteten Trostbücher bin ich dankbar dafür, dass das Bohana-Netzwerk Interessierten das Wissen um die vielseitigen Möglichkeiten auf sympathische Art und Weise näher bringt. Erzählt euren Freunden, Familien, Bekannten davon. Die Grauen Herren laden wir zukünftig nicht mehr zu unseren Feiern ein!
Daniela Mecklenburg
Trauerrednerin
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