Brücken bauen – ohne Worte

Ein Morgen in der Pflegeeinrichtung für demenzerkrankte Menschen

„Guten Morgen, Frau Eberle“ – keine Reaktion. Marta Eberle sitzt in ihrem Sessel, so wie jeden Tag, und schaut vor sich hin. Sie scheint nichts mitzubekommen, denn sie blickt ohne Regung immer auf denselben Punkt am Boden. Ihr Gesichtsausdruck ist unbewegt, fast leer. Was geht in ihr vor? Gibt es eine Möglichkeit, sie zu erreichen? Soll ich sie beim nächsten Mal lauter ansprechen? Vielleicht bekommt sie dann mit, dass sie gemeint ist? „GUTEN MORGEN, FRAU EBERLE“ – wieder keine Antwort. Ihr Blick ist immer noch unverwandt auf den Boden gerichtet. Was nun? Vielleicht kann eine Berührung zu ihr vordringen. Also probiere ich es mit einer sanften Berührung am Arm. Doch da zuckt Frau Eberle zusammen. Oh, jetzt habe ich sie erschreckt, das wollte ich nicht. Ich spreche leise zu ihr, aber ihre Anspannung löst sich nicht. Vielleicht war die Berührung, ohne dass sie darauf vorbereitet war, doch zu plötzlich für Frau Eberle. Mit unvermittelten Berührungen werde ich in Zukunft vorsichtiger sein.

Sensorische Koordination: Die Sinne verknüpfen

Bevor ich das nächste Mal zu ihr gehe, beschäftige ich mich nun mit der Frage, weshalb Menschen mit Demenz oft auf Ansprache nicht reagieren, und was man in einer solchen Situation machen kann. Folgendes finde ich heraus: Mit einer demenziellen Veränderung verliert der Mensch die Fähigkeit, Sinneseindrücke selbständig miteinander zu verbinden und Schlüsse daraus zu ziehen. In seinem Inneren geht vieles durcheinander: ihm ist warm, aber er weiß nicht, warum, denn er bringt dieses Gefühl nicht in Verbindung mit der Sonne, die scheint oder der Strickjacke, die er trägt. Genauso bringt er die Stimme, die er außerhalb seines Blickfeldes hört, nicht damit in Zusammenhang, dass er angesprochen und gemeint ist. Deshalb hat Frau Eberle also keine Reaktion gezeigt. Weiterhin beschäftige ich mich mit dem Hören bei demenzieller Veränderung. Und finde heraus: Wenn nicht eine zusätzliche Schwerhörigkeit vorliegt, ist es nicht beeinträchtigt. Also ist Frau Eberle genauso sensibel für den Klang einer Stimme wie jeder andere Mensch auch. Und niemand hat es gern, wenn er zur Begrüßung oder auch ansonsten zu laut angesprochen wird. Dann ziehen die meisten sich zurück oder werden ebenfalls aggressiv. Ich werde meine Lautstärke in Zukunft wieder drosseln.

Frau Eberle braucht es also, dass ich ihre Sinne für sie in Verbindung setze, dass sie beispielsweise das, was sie hört, auch sieht. Oder auch, dass sie erst jemanden sieht, bevor sie berührt wird. „Sensorische Koordination“ nenne ich diesen Vorgang.

Wege finden zum ‚schwer erreichbaren‘ Menschen

Mit meinem Überlegungen gehe ich am nächsten Morgen nun leise sprechend auf Frau Eberle zu. Ich weiß, dass sie meine Stimme noch nicht als Ansprache zuordnen kann, aber ich weiß auch, dass eine freundliche, ruhige Stimme in der Regel gerne gehört wird. Danach trete ich – weiterhin leise sprechend – in ihr Gesichtsfeld und beuge mich dafür zu ihr hinunter. Wird sie mir ihre Augen zuwenden? Nein, sie starrt weiterhin auf den Boden, so als ob ihr Blick in einem Tunnel gefangen ist. Also hocke ich mich hin und suche ihre Augen, immer noch leise und freundlich sprechend: „Guten Morgen, ich grüße Sie, Frau Eberle“ Währenddessen stimme ich die letzten Zentimeter ab, bis ich ihren Blick gefunden habe und direkt in ihre Augen schaue. Noch ist ihr Blick verschwommen, doch dann stellt er sich plötzlich scharf. Wir schauen uns nun beide an. Und mit einem Mal tritt ein kleines Lächeln in ihr Gesicht. Endlich hat sie verstanden, dass ich sie ansprechen möchte, dass sie gemeint ist. Was lerne ich daraus? Erst als ich meine Art und Weise, auf sie zuzugehen, auf ihre Möglichkeiten abgestimmt habe, konnte sie mich erkennen und mit einem Lächeln antworten.

Begegnung entsteht: Der Mensch wird am Du zum Ich

Und wie sehr sie es nun genießt, dass jemand zu ihr gekommen und bei ihr ist, der sie aus ihrer Verlorenheit in Zeit und Raum befreit und ihr gleichzeitig eine sicheren Halt gibt! „Der Mensch wird am Du zum Ich“, sagt der Philosoph Martin Buber, und genau das erlebe ich heute bei Frau Eberle. Indem ich sie suche und schließlich finde, kann sie aufleben. Nun geschieht etwas sehr Seltenes, Frau Eberle streckt ihre Hand nach mir aus und spricht: „Ich kenne Sie, mit Ihnen komme ich mit.“ Wir lächeln uns an und halten uns an den Händen. Natürlich erinnert sie sich nicht an mich, ich bin auf diese Art und Weise zum ersten Mal bei ihr. Aber wovon spricht sie denn? ‚Ich erkenne sie und daher kenne ich Sie‘ – vielleicht steckt das dahinter. Und dann folgt noch ein Satz, ganz klar und eindeutig, trotz ihrer sonstigen Verlorenheit. „Die anderen sind immer so schnell und sind so weit weg.“ Wie sehr hatte ich Frau Eberle mit meiner Begrüßung an den anderen Tagen wohl überfordert, ’so weit weg‘ war ich für sie, und da ich sie nicht erreichte, konnte keine Verbindung entstehen, und alles, was ich dann tat, war außerhalb ihrer Welt, ’so weit weg und so schnell‘.

Kommunikation ohne Worte: wie es entstand

Über mehr als 20 Jahre therapeutischer Erfahrungen mit vielen hunderten von Menschen am Lebensende und mit kognitiven Veränderungen haben mich dazu gebracht, mich intensiv mit der Sprache des Körpers zu beschäftigen. Der Wunsch, sie zu erreichen und auch ohne Worte mit ihnen in Verbindung zu treten, hat mich auf den Weg gebracht, um nach den Feinheiten im Miteinander zu suchen, derer wir uns oft nicht bewusst sind. Denn so lange der Mensch lebt, spricht sein Körper. Vielleicht anders, als wir es gewohnt sind, aber doch bis zum letzten Atemzug. Und die zwischenmenschliche Verbindung ist wohl das kostbarste, was wir einander schenken können.

Aus dieser langjährigen Suche verbunden mit wissenschaftlicher Tätigkeit ist das Interaktionskonzept „Kommunikation ohne Worte – KoW®“ entstanden.

Das Trainingsprogramm KoW®

Nonverbale, beziehungsfördernde Kommunikation ist erlernbar.

Das Trainingsprogramm Kommunikation ohne Worte – KoW® wurde an der Uni Heidelberg wissenschaftlich überprüft und in seiner Wirksamkeit belegt.

Es vermittelt Kompetenzen, um nonverbal

  • in verschiedenen Situationen einen Kontakt aufzubauen
  • Emotionen, Bedürfnisse oder Schmerzen sicher zu erkennen
  • Zuwendung und Informationen präzise zu vermitteln
  • Vertrauen und Sicherheit zu wecken
  • Beziehungen zu fördern und zu gestalten.

Das gesamte Programm hat einen Umfang von 48 Unterrichtsstunden verteilt auf 3 mal 2 Trainingstage, aufgeteilt in 6 Module.

In erster Linie für Gesundheitsberufe geeignet, können aber auch Angehörige oder ehrenamtlich Tätige daran teilnehmen.


Zum Profil von Kommunikation ohne Worte – KoW®


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