Begegnungen – um den Tod herum

Der Tod ist nichts Schlimmes

Mein Opa starb als ich sechs Jahre alt war. Das weiß ich jedoch nur aus Erzählungen. Sein Tod kam wohl schnell, aber schmerzvoll. Trotzdem hatte ich damals nicht den Eindruck, dass der Tod etwas Schlimmes sei.

Schnabelbecher, pürierte Bratwurst und der Tod im Seniorenheim

Eigentlich fing ich im Seniorenheim nur an, um mir ein bisschen Geld dazuzuverdienen. Doch ich merkte schnell, dass man so eine Arbeit nicht tun kann, nur um sein leeres Portemonnaie zu füllen. Ich pürierte Bratwurst, Spinat und Kartoffelbrei und verteilte kleine Brotschnittchen an die Bewohner. Doch ich übernahm auch Aufgaben, die nicht in meinen Bereich fielen. Aber da wir auf Station ständig unterbesetzt waren, gab es keine andere Möglichkeit.

An einem kalten und regnerischen Herbstmorgen hatte ich Frühschicht und war gerade dabei das Frühstück an die Bewohner zu verteilen. Herr N., von Drogen-, und Alkoholkonsum gezeichnet, der sich mit seinen knapp 50 Jahren im Altenheim wohl genauso fehl am Platz fühlte, wie ich mich in seiner Gegenwart. Und wenn er nicht rauchend am Fenster saß, war er mürrisch und schweigsam. Doch als ich an diesem Morgen das Frühstückstablett auf seinem Tisch abstellte und mich umdrehte, fiel mir nur die große Blutlache unter dem stark gewölbten Vorhang auf, der den kurzen Flur vom Badezimmer trennte. Ich fand Herrn N. in einer embryoähnlichen zusammengekauerten Position auf dem Boden liegend; das eingetrocknete Blut an seinen Schläfen und die offenen Augen, die in die Leere starrten.  Die spätere Diagnose der Ärzte lautete: Schlaganfall auf der Toilette.

Als der Leichnam von Herr N. geholt wurde, war ich bereits dabei, das Mittagessen zu verteilen. Mir kam es so vor, als sei diese Situation nie passiert. Seit dem Tag wurde kein Wort mehr über Herr N. verloren. Ich war 16 Jahre alt, als ich einen toten Menschen fand.

Ehrenamt und Schokokuss-Gespenster auf einer „Sterbestation“

Vier Jahre später studierte ich gerade für ein Semester in den Niederlanden, als mir die Idee kam, sterbende Menschen zu begleiten. In meinem näheren Umfeld war niemand verstorben – eigentlich hatte ich keinen konkreten Grund mich so intensiv mit dem Tod auseinandersetzen zu wollen. Ganz unbekannt war mir das Thema ja nicht, obwohl ich keinen medizinischen oder psychologischen Hintergrund hatte. Trotz fachfremdem Medienmanagement Studium bin ich auf der Palliativstation in Würzburg gelandet, wo ich mehrmals die Woche die Patienten, Angehörige und das ganze Palliativteam besuchte: mal mit Blumen oder Waffeln, selbstgemachten Keksen oder Schokokuss-Gespenstern zu Halloween.

Ich bin immer noch gerne auf der Palliativstation, bei den sterbenden Menschen. In diesen Momenten ist die Welt für mich ein besserer Ort – da bin ich offline für die Außenwelt. Dann lasse ich all den Kapitalismus und die Oberflächlichkeiten unserer Welt vor der Tür. Im Mittelpunkt stehen die echten Begegnungen von Mensch zu Mensch. Dann bin ich einfach nur da. Das ist genug und ich weiß, das bin ich, zu 100%!

Mein Buch vom Anfang und vom Ende

In meiner Bachelorarbeit widmete ich mich dem Thema Enttabuisierung gegenüber Sterben und Tod und schrieb ein kleines Buch dazu. Der Umzug nach Hamburg für meinen Master veränderte einiges, aber am schwersten fiel es mir, von meiner Familie und der Palliativstation nach eineinhalb Jahren Abschied nehmen zu müssen.

Der Radieschenkopf, Sarah und die Kinderdemenz

Neben meinem Studium ließ ich mich mehrere Monate zur Sterbebegleiterin ausbilden. Als ich Sarah kennenlernte, war sie 10 Jahre alt. Ein knappes Jahr vorher wurde bei ihr Kinderdemenz (NCL) festgestellt. Eine seltene Stoffwechselerkrankung, ohne Chance auf Heilung. Es ist ein stetig voranschreitender Degenerationsprozess: angefangen mit der vollständigen Erblindung und dem Verlust aller motorischen und geistigen Fähigkeiten, wird Sarah eines Tages künstlich beatmet werden müssen. Doch von Sarah habe ich gelernt, wie wichtig es ist, auch als Erwachsener Kind sein zu dürfen und wie intensiv die Höhen und Tiefen des Lebens sein können. An guten Tagen war ich wegen meiner ihr Radieschenkopf, an schlechten Tagen verhielt sie sich sehr zurückgezogen oder aggressiv.

Erfahrungen im Hospiz in Südafrika

Dann verließ ich Hamburg für ein paar Monate und reiste Richtung Süden. In Mandeni, dem südöstlichen Teil Südafrikas durfte ich ein paar Monate im Hospiz des Blessed Gérard´s Care Zentrum mithelfen. Am liebsten war ich mit dem Ambulanzteam in den Townships von Mandeni unterwegs. Diese Begegnungen veränderten mich. Als ich nach drei Monaten zurückkam, widerte mich die deutsche Konsummentalität an und gleichzeitig war ich dankbar dafür, hier geboren zu sein. Es steht so vieles im Widerspruch und man merkt erst mit ein wenig Abstand, was wirklich von existenzieller Bedeutung ist.

Ein Studiengang rund um den Tod

Nach meinem Masterabschluss hatte ich andere Pläne, aber wie das Leben so spielt, kommt immer alles ganz anders. Eine gute Freundin machte mich aufmerksam auf ein Interview von Professor Scheule. Darin sprach er über einen Studiengang, der sich mit dem Tod auseinandersetzen soll. Meine Kontaktaufnahme endete in einer Festanstellung als wissenschaftliche Mitarbeiterin für den Studiengang „Perimortale Wissenschaften: Sterben, Tod und Trauer interdisziplinär“ und Doktorandin. Seitdem sind fast eineinhalb Jahre vergangen und der Masterstudiengang startet im November an der Universität Regensburg. Ich halte Seminare und Workshops, organisiere Veranstaltungen, bin im engen Kontakt mit Interessenten und Studierenden und engagiere mich ehrenamtlich weiterhin in der Palliativ- und Hospizarbeit.

Der Masterstudiengang „Perimortalen Wissenschaften“ (PeWi) beschäftigt sich mit „Sterben, Tod und Trauer“ aus vielfältigen disziplinären Bezügen. Weitere Informationen, den Modulkatalog und die Studiengangsordnung findest du hier.

Logo-Gestaltung: Sophie Wetterich

Der Tod und ich

Ich glaube, der Tod ist einfach zu meinem Lebensthema geworden, ohne dass es mir dabei zu schwer wird. Als ich das letzte Mal daheim war, sagte meine Schwester zu mir: „Immer wenn du daheim bist, liegen irgendwelche Bücher übers Sterben rum.“ Darüber musste ich sehr schmunzeln. Natürlich gibt es auch noch andere Themen in meinem Leben, aber meine inneren Antennen sind auf jeden Fall sensibilisiert für diesen Bereich. Jeder Mensch hat seine ganz besonderen Fähigkeiten und es ist eine Stärke, wenn man diese einzusetzen weiß. Und meist wird man damit konfrontiert, wenn es ohne Erwartungshaltung geschieht.

Auch wenn Corona viel Unmut, Panik und (Todes-)Angst mit sich gebracht hat, habe ich die Hoffnung, dass unsere Gesellschaft langsam begreift, dass die Endlichkeit unseres Lebens nicht länger ausgeklammert werden darf. Geburt und Tod sind die Ankerpunkte unseres Lebens. Wir streben nach Anerkennung, Erfolg und Wohlstand und suchen nach etwas, von dem wir gar nicht wissen, was es ist. Wollen wir uns doch nichts vormachen, dass es vermutlich den Sinn des Lebens betrifft. Dabei bemerken wir auch, dass der Tod einfach nicht hineinpasst – in unser Leben.


Johanna Klug
Sterbebegleiterin