Jeder Suizid hinterlässt Spuren

Jeder Suizid hinterlässt Spuren

Diesen Satz haben wir uns auf die Fahne geschrieben. Groß und deutlich. Wir selbst haben die Erfahrung gemacht, dass jeder Suizid Spuren hinterlässt. Jedem, der einen Suizid im Umfeld zu beklagen hat und in Kontakt mit uns tritt, geht es genauso. Der Verlust nach einem Suizid geht oftmals mit einer erschwerten Form der Trauer einher. Kann ein Trauma hervorrufen. Was dieser Tod definitiv für die meisten Hinterbliebenen bedeutet, ist das anfängliche Chaos, in dem man sich plötzlich wiederfindet. Der Frage nach dem WARUM. Der Frage nach der Schuld und nach dem Sinn.

Wer hört die inneren Schreie von Suizid-Trauernden?

Wir haben im Herbst 2018 begonnen, unsere ersten Anlaufstellen aufzubauen. Wir sehen uns als Brückenbauer zwischen dem Ereignis des erlebten Verlustes und dem Finden des eigenen Weges in dieses nun so andere Leben. Anders als bei Selbsthilfegruppen steht bei uns der ganz persönliche Kontakt, einzeln und individuell, im Fokus. Wir möchten die Trauernden an dem Punkt abholen, an dem sie stehen. Dabei ist zuerst das Ziel im Vordergrund, den Angehörigen zu vermitteln, dass sie gehört und gesehen werden. Mit all ihrem Schmerz, all ihrer Trauer, all ihrer tiefsten Verzweiflung. Wenn der Suizid des geliebten Menschen noch nicht allzu lange zurückliegt, finden sich die Betroffenen in der Erstarrung wieder. Man fühlt und man fühlt doch nicht. Dies ist generell am Anfang jeder Trauer so, ganz unabhängig der Todesart und der Person, die man verloren hat.

Hinzu kommen die Einflüsse von außen

  • Begegnen mir die Menschen mit einer Vorwurfshaltung?
  • Geben sie mir eine Schuld?
  • Gehen sie auf Abstand?
  • Wem gebe ICH die Schuld?
  • Wie hätte ich es verhindern können?

Diese Fragen kreisen in einem wie furchtbar laute und unerträgliche Schreie. Bei unserer Arbeit mit Betroffenen erleben wir dies oft und versuchen, diese Gefühle und Gedanken gemeinsam mit ihnen aufzufangen. Und manches auch unbeantwortet stehen lassen zu können, wofür es keine Antwort gibt. Vor allem aber, die Situation gemeinsam mit ihnen auszuhalten. Und zu vermitteln, dass sie damit nicht allein sind und verstanden werden.

Was kann mir in meiner Trauer helfen, wenn ich mich ausgeliefert fühle?

Trauernde Menschen tragen viele Ressourcen bereits in sich. Der Zugang dazu scheint jedoch versperrt zu sein. Die Paten unserer Anlaufstellen haben alle selbst einen Suizid eines geliebten Menschen zu beklagen. Können deshalb auf ihren eigenen Erfahrungsschatz zurückgreifen und auf das, was sie durch unsere gemeinsame Arbeit und den Austausch miteinander erfahren haben. So ist es uns allen möglich, den Blick auf verschiedene Dinge und Mittel zu werfen. Die Angehörigen dürfen hin spüren, ob etwas davon hilfreich sein könnte. Hilfsmittel in die kleinen Dinge des Alltags einzubauen, finde ich persönlich wichtig. Häufig erleben die Hinterbliebenen, wie die Seele körperliche Symptome aussendet. Vielleicht haben sie Panikattacken, bekommen Tinnitus, Bauchschmerzen oder hören unbewusst auf zu atmen und fühlen sich von Zeit zu Zeit desorientiert.

Es gibt Wege und Hilfsmittel, wieder einen besseren Zugang zu sich selbst zu bekommen

Wenn man immer wieder erlebt, dass man sich selbst oder sein Umfeld nicht mehr wahrnimmt, können bestimmte Handlungen gut in den Alltag eingebettet werden.

  • Das kann ein „Handschmeichler“ als emotionaler Anker sein – ein Stein, den man mit sich trägt und an dem man sich festhalten kann, falls man sich in einer Situation überfordert fühlt.
  • Eine Wasserflasche, die man stets mit sich herumträgt, um bewusst etwas zu trinken, wenn man Panik in sich aufsteigen fühlt.
  • Sich selbst die Erlaubnis zu geben, sich aus einer schwierigen Situation zu entfernen, bis das körperliche Symptom wieder nachlassen kann.
  • Meditative Übungen, innere Reisen an einen sicheren Ort, den man sich bildlich erschaffen kann, sind hier ebenso unterstützend.
  • Oder den Fokus auf das zu richten, was man gerade sieht. Und zwar ganz bewusst – und das Bild mit der Handy-Kamera festhalten.

Wie geht es weiter? An wen kann ich mich wenden? Wer kann mir weiterhelfen?

Nach einer gewissen Zeit der Begleitung durch unseren Verein TREES of MEMORY, die per Mail, telefonisch und auf Wunsch auch bei persönlichen Begegnungen erfolgen kann, ergeben sich neue Fragen. Die nächsten möglichen Schritte können gesucht und gefunden werden. Hier setzen wir auch an, wenn der Suizid schon etwas länger zurückliegt und Trauernde nicht weiterwissen und um Hilfe fragen. Es geht darum, gemeinsam hinzuschauen, was individuell gebraucht wird und was helfen kann.

  • Ist der Austausch in einer Selbsthilfegruppe das, was ich brauche?
  • Wo finde ich eine passende Gruppe in meiner Nähe?
  • Ist meine Situation für mich allein nicht lösbar?
  • Wünsche ich mir therapeutische Hilfe?
  • Braucht es eventuell einen Aufenthalt in einer Klinik?

Je nachdem, an welchem Punkt die Betroffenen stehen, suchen wir gemeinsam mit ihnen weitere Hilfs- und Unterstützungsangebote. Dafür haben wir in den jeweiligen Regionen die Adressen der Anlaufstellen zusammengefasst, die wir weitergeben können. Falls gewünscht wirken wir bei der Kontaktaufnahme unterstützend mit, um die Angehörigen aus der Begleitung zu entlassen.

Leben mit dem Tabu Suizid

Wir erleben gelegentlich, dass betroffene Personen sich zuerst scheuen, auf unsere Hilfe zurückzugreifen. Wenn sie sich dazu überwunden haben, den Kontakt zu uns aufzunehmen, steht für alle zuerst dieser eine Punkt im Vordergrund: „Da ist jemand, der mich versteht.“ Suizid und auch das Thema Suizidalität an sich macht vielen Menschen Angst. Es überfordert, ruft Unverständnis hervor. Und so erleben die Hinterbliebenen das Gefühl, ganz allein mit ihrem Schicksal dazustehen. Niemand schreibt es sich groß auf die Stirn, so dass es jeder sehen kann, was man erlebt hat. Und doch betrifft es so unsagbar viele. Ist Teil unserer Gesellschaft. Still, ungesehen. Dies ist nicht gerade förderlich, um sich mit dem eigenen Schicksal versöhnen zu können. Suizid-Trauernde geraten oftmals selbst in psychisch sehr kritische Phasen. Es kann passieren, dass sie lange auf der Suche nach dem Sinn des eigenen Lebens sind.

Ein so sinnlos erscheinender Tod wirft die Frage nach dem Sinn des eigenen Daseins auf

Nach dem Suizid eines nahestehenden Menschen ist das gesamte Leben aus den Angeln gehoben. Nichts ist mehr, wie es war. Und nichts wird mehr so sein wie zuvor. Wie ein Cut, tief und deutlich. So beginnt die Suche nach sich selbst. Nach der eigenen Daseinsberechtigung und dem, was einen weiterkämpfen lassen kann. Schritt für Schritt, das eigene Tempo findend. Wir haben selbst diese Erfahrung gemacht und sehen es bei vielen, die wir begleiten oder mit denen wir generell im Austausch stehen. Sich auf den Weg machen, ist so wichtig, um nicht in Gefahr zu laufen, in der Trauer stecken zu bleiben. Sondern der Trauer gestatten zu können, uns zwar zu begleiten, sich jedoch auch wandeln zu dürfen.

  • Muss ich mich in Themen psychische Erkrankungen, Suizidalität und Suizid einlesen?
  • Kann ich es erst verstehen, wenn ich mich damit intensiv auseinandersetze?
  • Möchte ich mich aktiv genau in dem Bereich meines eigenen Schicksals einbringen?
  • Oder brauche ich die Distanz dazu, die mir weiterhelfen kann?
  • Ist es mein Glaube an Gott, um wieder nach vorne zu blicken zu können?
  • Möchte ich im seelsorgerischen Bereich tätig werden oder Senioren-Nachmittage begleiten?
  • Sind es Kinder oder Haustiere, die mich wieder lächeln und eine erfüllte Zeit erleben lassen?
  • Was gibt es sonst noch, das mich wieder aktiv am Leben teilnehmen lässt?

Menschen mit suizidalen Erfahrungen brauchen häufig eine Veränderung, um den Anschluss an ein nun anderes Leben zu finden. Es geht darum, das Vertrauen in sich selbst zu suchen und fündig werden zu können. Denn jeder Suizid hinterlässt Spuren. Und verändert das eigene Leben.


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Iris Pfister
https://www.treesofmemory-ev.com/