Drei Jahre war ich alt, als mein Großvater starb. Wir lebten miteinander in einem Mehrgenerationenhaus, meine Großeltern, meine Tante, die Eltern und meine vier Geschwister. Wir gingen die Holztreppe hinauf in die Küche, wo er auf der Küchenbank lag. Vor ihm der Tisch, darüber eine Lampe, die warmes Licht ausstrahlt. Die ganze Großfamilie stand um den Tisch herum. Das ist meine Erinnerung, die ich manchmal dankbar erzähle. Dankbar, weil unsere Eltern mich mitnahmen und ich heute davon überzeugt bin, dass ich keine Angst vor toten Menschen habe, weil dieses erste Erlebnis mein Urvertrauen gestärkt hat. Es wurde nicht geschrien, an Weinen kann ich mich auch nicht erinnern, vermutlich wurde gebetet – auf jeden Fall geschah alles in einer großen Selbstverständlichkeit. Heute weiß ich, dass es sich bei diesen selbstverständlichen Handlungen um Rituale, in unserem Fall katholische Rituale, handelte.
Ich war nicht außen vor, sondern wurde an der Hand in die Traurigkeit mitgenommen
An der Hand war ich, weil ich die Kleinste in der Runde war, meine beiden jüngeren Geschwister lagen noch im Kinderwagen. Obwohl: in die Traurigkeit hat man mich nicht wirklich mitgenommen, denn Traurigkeit wurde in der Generation meiner Eltern und Großeltern kaum gelebt. Und wer das aus dieser Generation kennt, weiß auch, dass Menschen, die Traurigkeit nicht zulassen, ihr Herz verschließen und ebenso wenig herzlich sein können. Sie können „gute Menschen“ sein, aber nicht „offenherzig“.
Das Schlüsselerlebnis
Von diesem Erlebnis erzählte ich in einem Vortrag, bei dem meine drei Jahre ältere Schwester im Publikum saß. Sie kam anschließend zu mir und bestätigte den Ablauf des Abends. Allerdings hat sie die Abschiednahme vom Großvater als beängstigend und gruselig in Erinnerung. Und da wurde mir klar, dass dies etwas mit dem Todesverständnis von Kindern zu tun hat.
Ich war drei und hatte von der Endgültigkeit keine Vorstellung
Wer so wie ich damals diesen Verlust nicht versteht, kann auch nicht langfristig traurig sein. Mit sechs Jahren versteht man aber schon mehr davon und braucht entsprechend mehr Rückhalt und Hilfe, mit solchen Verlustsituationen und -ängsten umzugehen. Jedoch wurden meine Schwester und mein älterer Bruder als die „Großen“ ge- und damit übersehen. Unsere Mutter sagte später: „Es gab keine Bücher, über Trauer wurde nicht gesprochen. Es gab die Rituale, die man vollzog und dann ging der Alltag weiter. Eine kranke, klagende Großmutter, euer Vater in der Umschulung und fünf Kinder – da hat sich niemand Gedanken um Trauerbegleitung gemacht.“ Vor allem meine Schwester hätte aber eine Hand der Eltern und kindgerechte Erklärungen gebraucht, damit ihre Fantasie nicht Ängste, die bis ins Erwachsenenalter blieben, hervorgerufen hätte.
Erste Schritte
Nach einer Erzieherinnenausbildung, Pfadfinderarbeit und Kindergartenleitung begann ich gemeinsam mit einem Pater, Seminare für Erzieherinnen zum Thema „Tod und Trauer im Kindergarten“ anzubieten. Wir erarbeiteten uns diese Thematik von Grund auf, da es kaum Literatur und keine Weiterbildungen gab, an denen wir uns hätten orientieren können. Warum braucht es die Trauer? Welche Rituale gibt es und welchen Sinn haben sie? Was ist hilfreich? Warum trauern Jungs anders als Mädchen? Und die Oma ähnlich wie die Mutter aber anders als ich? In den Seminaren erklärten wir Trauerreaktionen, religiöse und gesellschaftliche Rituale, empfahlen Bilderbücher, Spiele und Lieder. Bald darauf wurde ich in Kitas geholt, weil eine Mutter, ein Opa oder ein Kind verstorben war.
Die gesellschaftliche Einstellung der 1990er Jahre
Zur Weiterbildung besuchte ich einen Sterbebegleitungskurs und machte eine Palliativ-Care-Ausbildung für psychosoziale Fachkräfte. In einem Trauerbegleitungsseminar für Erwachsenenarbeit benannte ich Parallelen oder Unterschiede zur Trauer von Kindern und Jugendlichen, die deshalb eine andere Herangehensweise erfordern. Aber die Lehrgangsleiterin, eine weltweit anerkannte Koryphäe winkte ab: „Kinder brauchen so etwas nicht, die haben Selbstheilungskräfte.“ Sie formulierte damit die gesellschaftliche Einstellung der 1990er Jahre.
So kam es zur Familientrauerbegleitung
Bestärkt durch die eigene Auseinandersetzung mit dem Thema und die theoretischen Inhalte der Seminare war mir durch meine frühe Erfahrung in der Familienbildungsarbeit jedoch klar, dass es Kinder- und Jugendtrauerbegleitung braucht, in der auch Eltern und das soziale Umfeld berücksichtigt werden. So entwickelte sich daraus die Familientrauerbegleitung für Kinder und Jugendliche unter Einbeziehung von Eltern, Kindergarten, Schule und Arbeitsplatz.
Im Lauf der Zeit meldeten sich immer mehr verwitwete Mütter und Väter, deren PartnerInnen verstorben waren. Anfangs irritierte es mich, dass es so viele junge verwitwete Eltern gab, bis mir klar wurde: es waren schon immer junge Eltern verstorben, aber es gab keine Unterstützungsangebote und dadurch kein Signal: Hol dir Hilfe. Stattdessen war das Motto: „Das ist traurig, aber da muss man durch und als Eltern an seine Kinder denken und stark sein.“
In unseren Begleitungen fand ich es faszinierend, den Wert und gleichzeitig den oft schizophrenen Umgang mit der Trauer zu erleben: „So ein Quatsch! Wir sind auch ohne Trauerbegleitung groß geworden und das im Krieg und das war ja wohl schlimm, aber da muss man eben durch …“ verteidigten die einen ihr schweres Leben ohne Trauerbegleitung – und konnten kaum aufhören, darüber zu reden. Während andere sagten: „Das hätten wir so sehr gebraucht!“ Und wieder andere wandten sich ab, kniffen die Lippen zusammen und erzählten schweigend ihre Geschichte.
All das bestätigte mich in meinem Ansatz und so zog der Kieselstein namens „Familientrauerbegleitung“, den ich ins Wasser geworfen hatte, seine Kreise. Anfangs in einem eigens dafür eingerichteten Raum in meinem Haus in Gelsenkirchen und draußen im Garten: dort gab es einen Bauwagen und Sitzplätze in einem begehbaren Hasenstall – wie ein Streichelzoo – für die Kinder- und Jugendbegleitung. Und später im Lavia-Haus, einem umgebauten Friedhofsgärtnerhaus, das wir heute noch nutzen.
Den Begriff Familientrauerbegleitung habe ich damals kreiert, um die notwendige systemische Arbeit zu verdeutlichen.
Seit diesem Jahr gibt es das Gütesiegel „Familientrauerbegleitung in Praxis und Wissen“
In der Weiterentwicklung habe ich gemeinsam mit meiner Bamberger Kollegin Alexandra Eyrich von ZwischenGeZeiten praxiserprobte Qualitätskriterien aufgestellt, die auch anderen KollegInnen als Orientierung in ihren Weiterbildungen dienen können. In unsere Lehrgangsinhalte haben wir u.a. die Kinderrechte mit einbezogen. Dieses Siegel können TrauerbegleiterInnen nutzen, die nach den Prüfungsstatuten der Basis- und Aufbaulehrgänge bei Lavia und ZwischenGeZeiten zertifiziert wurden.
Die Grundlagen der systemischen Familientrauerbegleitung unter Einbeziehung der Kinderrechte sind ebenso wichtig, wie die Grundlagen der Gesprächsführung, die man in Familien benötigt, wenn man auf redselige, fragende, klagende oder schweigsame Kinder, Jugendliche, Männer oder Frauen in Trauersituationen trifft.
Wir brauchen FamilientrauerbegleiterInnen, die in der Lage sind, gute Fragen zu stellen. Fragen, die reflektieren lassen, Anreiz zum Nachdenken geben, Gesprächsimpulse bieten und Diskussionen auslösen, sprich: Bewegung in einen Trauerprozess bringen. Dafür braucht es pädagogisches Geschick und Wissen um das kognitive Todes- und Trennungsverständnis von Kindern, Jugendlichen – und die Erwachsenenperspektive darauf.
Mit unserem Gütesiegel „Familientrauerbegleitung in Praxis und Wissen“ stehe ich und stehen wir dafür, dass Männer und Frauen schon nach dem Basiskurs mit einem imaginären Koffer, der mit kreativen Ideen und dem Wissen um Einsatzmöglichkeiten gefüllt ist, gestärkt und motiviert an ihre Arbeitsorte zurückkehren. In Deutschland, Österreich und der Schweiz sind mittlerweile gut ausgebildete FamilientrauerbegleiterInnen nach diesem Konzept tätig. Und es freut mich, dass der Begriff „Familientrauerarbeit“, der bis heute noch nicht im Duden zu finden ist, bereits von vielen weiteren KollegInnen übernommen wurde.
Wir brauchen auf allen gesellschaftlichen Ebenen Menschen mit dem Wissen um Trauerreaktionen
Wie wertvoll wäre es gewesen, wenn der kleine Tim damals eine Lehrerin in der Grundschule erlebt hätte, die in seiner Wut die Trauer um die tote Mama erkannt hätte. Der kleine Tim hatte allerdings kein Glück mit der Lehrerin, er musste ein Jahr lang Strafarbeiten schreiben und in der Parallelklasse zur Strafe in der letzten Reihe sitzen, bis ihm eine Familientrauerbegleitung zur Hilfe kam. Ein Segen, dass Nina einen Arbeitgeber hatte, der der Witwe Unterstützung am Arbeitsplatz anbot.
Nein, LehrerInnen, TherapeutInnen oder ArbeitgeberInnen müssen keine TrauerbegleiterInnen sein – aber sie sollten um Trauerreaktionen wissen und den Betroffenen und dem Umfeld Orientierung in schweren, in „ver – rückten“ Zeiten anbieten.
Wir werden mehr, und das ist gut!
„Familientrauerbegleitung, wer braucht denn das?“ Das fragt heute, im Jahr 2020, niemand mehr. An diesem Erfolg haben auch viele Kinder, Jugendliche und ihre Familien mitgewirkt, die als KrisenbewältigerInnen nach einem Trauerfall und anschließender Trauerbegleitung bei Lavia in die Öffentlichkeit gegangen sind.
Schon früh haben wir gemeinsam an Fernseh-Dokus teilgenommen und zusammen Interviews für Zeitungen gegeben. Viele Jugendliche und Eltern waren mit mir in Vorträgen und Seminaren unterwegs, um über den Wert von Familientrauerarbeit zu berichten oder als Peers anderen Jugendlichen Mut zu machen. Kein Junge und kein Mädchen wurde als Opfer, sondern immer wieder als starke Typen, trotz oder gerade wegen der Verlusterfahrung, gezeigt.
Die Bundeskanzlerin Angela Merkel bedankte sich bei der Gedenkfeier im Kölner Dom für die Trauerbegleitung
Als 2015 der Co-Pilot eine Germanwings-Maschine vor einen Berg in den Alpen flog und unter den vielen Toten auch eine Schulklasse aus Haltern am See dabei war, deren Geschwister, Freunde und teilweise Eltern wir begleiteten, gab es viele Berichte darüber in der internationalen Presse. Bundeskanzlerin Angela Merkel bedankte sich bei der Gedenkfeier im Kölner Dom für die Trauerbegleitung. Diese öffentliche Wahrnehmung und Wertschätzung der Trauerbegleitung, die über die ersten Stunden der Notfallseelsorge hinausgeht, hatte es bis dato noch nicht gegeben und sie war ein Gewinn für die gesamte Trauerszene.
Es führt kein Weg an der Traurigkeit vorbei, nur durch sie hindurch
Ich habe diesen Blogbeitrag überschrieben mit: „An der Hand durch die Traurigkeit“ – das war der Titel einer WDR-Dokumentation über unsere Familientrauerarbeit. Heute, im Jahr 2020 bin ich dankbar und stolz, dass ich gemeinsam mit vielen KollegInnen international bewirken konnte, dass Eltern, ErzieherInnen und LehrerInnen den Mut besitzen, ihre Kinder an die Hand zu nehmen und sich auch von Kindern mitnehmen zu lassen – durch die Traurigkeit. Denn es führt kein Weg an ihr vorbei, nur durch sie hindurch. Und zu wissen wie gut ist es, dabei nicht allein sein zu müssen.
Und noch ein Nachsatz: Meine Mutter ist heute in der Lage, meinen Söhnen, ihren Enkeln, Traurigkeit zuzugestehen, sie zu trösten und selbst hin und wieder Trauer zuzulassen. Das hat sie herzlicher gemacht.
Über die Autorin
Mechthild Schroeter-Rupieper
Gründerin von Lavia – Institut für Familientrauerbegleitung