Bisher traf es immer die anderen, doch dann kommt sie, die Nachricht, die alles auf den Kopf stellt: Ein Kollege ist verunfallt, die Chefin muss sich von ihrem Partner für immer verabschieden, das Kind des Vertriebsleiters ist plötzlich verstorben, ein Suizid verstört das Team. Nicht nur Todesfälle, auch andere schwere Verluste erschüttern das System, und konfrontieren uns mit der Zerbrechlichkeit des Lebens.
Wie gelingt Ermutigung und Unterstützung in Krisen, im Trauerprozess?
Grundvoraussetzung für angemessene Hilfestellung ist eigene Stabilität und Zuversicht. Bergretter sichern sich zunächst selbst, bevor sie in den Felsen steigen, auch ein Rettungsschwimmer hat auf offener See ein Board dabei. Gleichzeitig besteht Vertrauen, die Situation meistern zu können. In einer belastenden oder bedrohlichen Situation ist es entscheidend, zunächst für Beruhigung zu sorgen. Im Ausnahmezustand befindet sich unser Nervensystem im Überlebensmodus, in dem sich die Wahrnehmung verändert, Denken, Handeln und Fühlen auseinanderdriften. Um dieser drohenden Dissoziation vorzubeugen, braucht das Nervensystem Impulse, aus dem Kampf- und Fluchtmodus wieder in die Verbindung aller Funktionsbereiche des Seins zu gelangen, in die Präsenz. Am schnellsten und einfachsten gelingt dies durch einfache Erdungs- oder Atemübungen. Ein paarmal tief und bewusst ausatmen, die Füße spüren, sich selbst im Körper oder im Kontakt mit der Umwelt wahrnehmen schafft mehr Präsenz. So können wir stabil bei uns bleiben und gleichzeitig mitfühlen. Für die nötige Empathie helfen uns unsere eigenen Erfahrungen, mitleiden sollten wir jedoch nicht. Viele Helfer meinen, sie dürften “die Dinge nicht an sich heranlassen“. Natürlich benötigen wir Distanz, doch wenn wir uns sehr stark abschotten, sind wir nicht mehr erreichbar und können nicht wirklich im Kontakt und empathisch sein.
Mein Prinzip BEILEID: Erste und mehr Hilfe bei Krisen und Trauer am Arbeitsplatz
Wenn wir anderen in ihrem Leid beistehen wollen, ohne im Mitleid zu versinken, benötigen wir neben der eigenen Stärke, Resilienz und Zuversicht die nötige Ausrüstung, ein Handwerkszeug.
Dafür habe ich aus den Erfahrungen mit den unterschiedlichsten Systemen und Organisationen das Prinzip Beileid entwickelt. Es ermöglicht Ihnen mit angemessener Haltung die grundsätzlichsten Aspekte gelungener zwischenmenschlicher Unterstützung individuell und situationsangepasst umzusetzen:
B eziehung pflegen, Bedürfnisse beachten
E mpathie üben
I ndividualität akzeptieren
L ogistik und Logik nutzen
E ntspannung finden
I ntegration, Interesse entwickeln
D auernd achtsam dranbleiben
Aus Selbstsorge entsteht Fürsorge
Beziehung zu anderen Menschen gelingt am besten, wenn wir zunächst mit uns selbst gut in Kontakt sind. Sie dürfen wissen: Wie bin ich zurzeit da? Wie ist meine Situation? Wie gut bin ich mit mir und meinen Bedürfnissen in Kontakt? Was brauche ich für mich, um hilfreich zu sein? Sobald Sie dies wissen, können Sie einen angemessenen Kontakt zur trauernden Person aufbauen und klären: Wie sind die Bedürfnisse? Welches sind die Dringlichsten? Wie kann ich Hilfe zur Selbsthilfe leisten?
Empathie entsteht durch Wahrnehmung der Gefühle und der daraus resultierenden Bedürfnisse. Forschen Sie zunächst gut in ihrem Körper, welche Gefühle sie verorten können. So können Sie ihre eigenen Gefühle gut von denen des Gegenübers abgrenzen. Öffnen Sie Räume und geben Sie Zeit für die Gefühle der Betroffenen, ermöglichen Sie den Ausdruck, bleiben Sie dabei. Echte Anteilnahme und aus-Gehalten werden ist ein großes Bedürfnis Trauernder.
Jede und jeder ist anders, deshalb ist es wichtig, die Individualität zu akzeptieren. Es gibt in der Trauerverarbeitung kein Richtig oder Falsch, jedes System darf seinen eigenen Weg erkunden.
Logistik heißt Strukturen und Abläufe zu schaffen, die Sicherheit, Orientierung und somit Stabilität bieten: Wer tut was? Wann? Wozu? Dafür kann man schon im Vorfeld planen, sodass im Ernstfall viel Zeit und Energie gewonnen wird.
Je größer die Herausforderung, desto mehr Kraft und Energie darf in die nötige Entspannung investiert werden. Das gilt sowohl für jeden Einzelnen als auch für ein ganzes Team. Präventiv darf die Stressbelastung in Organisationen so in Maßen gehalten werden, dass das Fass nicht so schnell zum Überlaufen gebracht werden kann. Manchmal reichen schon kurze Auszeiten oder Pausen in Form von frischer Luft, einer kleinen Wahrnehmungsübung, oder ein freundliches Gespräch.
Integration bedeutet, Interesse und Offenheit für alle Bereiche des Lebens zu entwickeln und sie einzubeziehen. Wenn etwas Schlimmes passiert, ist es entscheidend zu „begreifen“, zu erfühlen, zu hören, zu sagen: Es ist wirklich passiert! Sehr oft hören wir: „Das glaub ich nicht!“ „Das darf doch nicht wahr sein!“ Es ist oft schwer, die Realität zu erfassen und dann zu spüren: „Es ist mir widerfahren“, „Es hat Auswirkungen auf mich und mein Leben, meine Arbeit, meine Leistungsfähigkeit“. Dabei entfalten sich sehr viele Gefühle, Gedanken Erinnerungen, Wünsche, Klagen, Liebe, Sehnsucht, das Leben fährt Achterbahn. Indem wir versuchen, uns zeitweilig auf das Weiterleben zu fokussieren und andererseits um das Verlorene kreisen, kommen wir in eine pendelnde Lebensführung, die zur Integration, zur Einsicht führen kann: „Ich kann mit diesem Verlust weiterleben“. Das Leben hat sich verändert und es kann auch gut weitergehen.
Wenn Sie dauernd achtsam dranbleiben, für sich selbst und Ihr System zu sorgen, Sie die Grenzen der ganz persönlichen Belastbarkeit erkennen und respektieren, kann die gewinnbringende Integration von Trauer im System gelingen.
Es geht auch nicht darum, perfekt zu sein. Es geht hauptsächlich um Sicherheit, Ihre persönliche Präsenz und die Beziehung, die Sie aufbauen können, im Innen und Außen. Es geht um Achtsamkeit für die individuellen Bedürfnisse, zunächst für sich selbst und dann für andere.
Der „Trauergewinn“
Viele Systeme, die ich in den letzten Jahren begleiten durfte, und damit meine ich den einzelnen Menschen als System genauso wie große Organisationen, berichten von einer Bereicherung im Leben durch den Trauerprozess. Es wurde unterschieden zwischen wichtigen und unwichtigen Tätigkeiten, die Werte und damit die Ziele änderten sich, Beziehungen zu Familienmitgliedern, Freund*innen, Kolleg*innen, Vorgesetzten, Arbeitgeber*innen änderten sich. Manchmal wurden sie gelöst, manchmal reduziert, manchmal entstanden neue, oder tiefere, beglückende Verbindungen. Vielfach ist zu hören: „Ich hätte es gerne anders erfahren, aber ich habe viel aus der Situation gelernt und mich positiv weiterentwickelt.“ Ich weiß jetzt, was mir wichtig ist!“ „Ich kann jetzt besser nein sagen.“ „Ich kann für mich gut sorgen“. In Teams ist zu hören: „Die Sache hat uns zusammengeschweißt“ „Wir wissen jetzt, auf wen Verlass ist“ „Wir haben erfahren, was wir alles leisten können.“ „Es war berührend, diese Unterstützung zu erfahren, da möchte ich etwas zurückgeben.“ „Das (Arbeits-) Leben hat mehr Tiefe und Fülle bekommen.“ Meist hat dieser Trauerprozess auch zur Folge, dass wir wachsen und reifen, in der Psychotraumatologie wird der Begriff „posttraumatisches Wachstum“ verwendet.
Die gelungene Integration des Verlustes lehrt Klärung der Bedürfnisse, Selbstsorge und Fürsorge, den Wert von Beziehungen, Achtsamkeit und die Akzeptanz für alles, was ist. Es entsteht oft Frieden und Dankbarkeit. Aus meiner Sicht sind dies Werte, die in einem nachhaltigen Arbeitsprozess „lohnend“ sind, die das (Arbeits-) Leben lebenswert machen. Ich bin davon überzeugt, dass Work-Life-Balance mit all den Veränderungsprozessen leichter gelingt, wenn die Aspekte der Trauer berücksichtigt werden. Trauernde sind Vorbilder für Selbstführung und Lebensgestaltung.
Mein beruflicher Fokus hat sich von der wissenschaftlichen Arbeit in der pharmazeutischen Biologie auf die Arbeit mit seelisch verletzten Menschen verlagert. Nach Fort- und Weiterbildungen im Bereich Trauer und NLP-Coaching gründete ich 2008 das Konzept Lucera Beratung bei Trauer im Unternehmen. Ich biete dort Akutbegleitung und Coaching für Teams, Führungskräfte und Kollegen an, sowie Vorträge und Workshops zum Umgang mit Trauer, Trauma und Krisen am Arbeitsplatz. Aus dieser Arbeit ist mein Buch „Wenn Kollegen trauern“ entstanden.
Die Integration von Trauma, ist sehr eng mit der Trauer verknüpft und deshalb ein wichtiger Faktor meiner Arbeit geworden, damit verbunden die Themen Stabilisierung, Selbstsorge und Resilienz.
Durch Yoga hat sich mein Umgang mit den Lebensthemen insofern verändert, als ich nun auch die Verbindung von Körper, Geist, Seele besser in mein Wirken und Leben integrieren kann.
Dr. Franziska Offermann
Trauerbegleiterin (BVT)
Zum Profil von Dr. Franziska Offermann
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