Während ich diesen Bohana-Blogbeitrag schreibe, findet die Fußball-Europameisterschaft 2024 in Deutschland statt. Eine Europameisterschaft, bei der mir das Thema Trauer oft begegnet ist. Es fing schon beim Eröffnungsspiel an: Heidi Beckenbauer brachte den Henri-Delauny-EM-Pokal ins Stadion und grüßte mit einer rührenden Geste in Richtung Himmel ihren verstorbenen Mann, Fußball-Legende Franz Beckenbauer.
Es gibt viele Momente der Trauer im Fußball
Wenn man sich verletzt, kann man nicht mehr weiterspielen. Wenn der Schiedsrichter eine Entscheidung getroffen hat, ist sie nicht mehr umkehrbar, auch wenn sie falsch war. Die Zeit läuft irgendwann ab. Kurz vor Abpfiff kann es eng werden – hektisch, hitzig und verletzend. Wer in die Verlängerung oder ins Elfmeter-Schießen muss, geht an seine Grenzen und mobilisiert die letzten Kräfte. Gerade die sogenannte K.O.-Runde kann Spieler und Fans hart treffen. Wenn man verliert, scheidet man aus.
Am Ende des Spiels ist einfach Schluss. Aus der Traum vom Weiterkommen. Das Ziel und die Hoffnung, Meister, Europameister oder Weltmeister zu werden, muss begraben werden. Und oftmals bedeutet das Aus – besonders bei einem Turnier – auch den Abschied von Mannschaftskameraden, Fanfreundschaften und dem Wir-Gefühl im Stadion, den Public Viewing-Zonen oder privaten Fußball-Partys.
Und dann kommen – je nach Dramatik des Ausscheidens – all die Gefühle hoch: die Ohnmacht, die Verzweiflung und die Traurigkeit, dass es plötzlich vorbei ist. Monatelange Vorbereitungen und dann das Aus. Und dann kommen sie auch: Die Tränen.
Wenn Männertränen einfach fließen dürfen …
Ich weiß nicht, wie das bei dir ist, aber ich sehe deutlich seltener Männer weinen als Frauen. In den letzten Wochen, während der Fußball-Europameisterschaft war das Bild ein anderes. „Ronaldo, deine Tränen machen dich noch größer“, lautete eine Schlagzeile, nachdem Ronaldo einen wichtigen Elfmeter verschossen hat. Julian Nagelsmann kämpft nach dem Aus mit den Tränen. Und bei Pepe fließen sie einfach, weil es sein letztes Spiel für die Portugiesische Nationalmannschaft war. Es wird mitgelitten, getröstet, auf die Schulter geklopft und in den Arm genommen. In den Interviews wird überwiegend behutsam mit der Trauer umgegangen. Alle können die Trauer nachvollziehen. Maximale Empathie. Durch den Fußball scheint sich ein Raum zu öffnen, bei dem alle Gefühle einfach sein dürfen.
Helden, Vorbilder und Emotionen auf dem Fußballplatz
Die Profifußballer werden für ihr Können, ihre Kraft, ihre Stärke, ihre Schnelligkeit, die Geschicklichkeit am Ball und für ihr Leben bewundert. Schon die Kleinsten identifizieren sich mit ihnen, wollen sein wie sie, tragen die Trikots und sind Experten zum Thema Abseits und Foulspiel. Wir Erwachsenen schauen mit ihnen gemeinsam die Spiele. So erleben Kinder uns Erwachsene auch in all unseren Emotionen. Freude, Nervosität, Frust, Wut – beim Fußball gibt es eine Legitimation, all diese Gefühle auch zu zeigen. Unsere Kinder erleben viele Erwachsene so gefühlig wie selten im Alltag. Und nicht nur uns: Denn wenn die großen Idole auf dem Platz weinen, den Gefühlen einfach freien Lauf lassen, dann verbindet das. Es zeigt: Es ist normal zu weinen, wenn man traurig ist.
Ging es eigentlich nur mir so, dass mir Trauer und Tränen bei dieser EM besonders häufig aufgefallen sind?! Vielleicht achte ich auch nur mehr darauf, weil ich mich mit Bohana schon lange damit auseinandersetze. Oder findet auch öffentlich ein Wandel der Trauerkultur statt? Das wäre ja schön.
Wir leiden selbst und leiden mit
Deutschland steht nicht im Halbfinale. Ich muss an das Buch „Fühl dich ganz“ von Lukas Klaschinski denken, mit dem ich beim letzten Bohana-Onlinekongress darüber gesprochen habe, wie wichtig es ist, Gefühle zu fühlen, zu zulassen und darüber zu reden.
Beim Fußball erleben wir gerade alle Gefühle parallel und gleichzeitig, bei uns selbst – und wenn wir in die Gesichter der anderen Zuschauenden sehen. Wir hoffen, leiden und freuen uns. Wir sind glücklich, frustriert, nervös, angespannt – und fühlen uns tief miteinander verbunden. Und jetzt in den K.O.-Runden erleben wir auch immer wieder ganz viel Trauer – immer dann, wenn etwas vorbei ist, dass uns so gut getan hat. Wir erleben an vielen Orten Verbundenheit und ein schönes Miteinander – auf den Straßen, im Supermarkt und zuhause: Guckst du auch das Spiel? Natürlich, und wo guckst du? Hast du auch das Spiel gesehen? Wenn man Fußball mag, dann ist das eine besondere Zeit. Diese Gemeinschaft zu spüren, sich gemeinsam zu freuen und auch gemeinsam zu leiden und traurig zu sein.
Trauerfeier mit 43.000 Menschen im Stadion – ein unvergessliches Erlebnis
Ich erinnere mich an ein Hertha BSC-Fußballspiel, dass ich im Januar mit meinem Sohn besucht habe. Kurz vorher ist der Hertha-Präsident Kay Bernstein plötzlich und unerwartet im Alter von 43 Jahren gestorben. Als ich die Tickets gekauft habe, war mir nicht bewusst, dass es das erste Heimspiel nach seinem Tod war. Der Verein und die Fans haben das erste Heimspiel zur größten Trauerfeier gemacht, auf der ich jemals war. Ich war zutiefst beeindruckt, wie liebevoll es organisiert und gestaltet war – in der Kürze der Zeit für so viele Menschen. Ein ausgelegtes Kondolenzbuch, die Möglichkeit, Blumen und Bilder zum Gedenken abzulegen. Die Fans haben auf Gesänge und Fahnen verzichtet. Viele haben schwarz getragen. Der Stadionsprecher hat eine Rede gehalten und einfach selbstverständlich bei seinen Worten geweint. Und: Viele haben einfach geweint.
Am Anstoßpunkt die Worte „Wir Herthaner in tiefer Trauer“
Und ich habe mich für meinen Sohn gefreut, dass er das sehen und erleben durfte. Es mag sich merkwürdig anhören, aber an diesem Ort war es einfach für alle normal und selbstverständlich, jetzt zu weinen und weinen zu dürfen. Ich freue mich über jeden Ort, an dem es möglich ist, Gefühle authentisch zu zeigen und rauszulassen.
Über die Autorin
Anne Kriesel
Gründerin und Ideengeberin I Bohana