Schuldgefühle in der Trauer

Welche Strategien im Umgang mit Schuldgefühlen helfen können


Schuldgefühle kenne ich richtig gut. Ich darf behaupten, ich bin stolze aber unfreiwillige Expertin. Denn Schuld war über lange Zeit das vorherrschende Gefühl in meinen persönlichen Trauerprozessen und damit eine Art uneingeladener Dauergast in meiner Psyche. Es wäre unehrlich zu behaupten, dass mich das Zusammenleben mit diesem Gast nicht viel Kraft und Nerven gekostet hätte. Gleichzeitig hatte ich dadurch viel Zeit und Gelegenheit herauszufinden, welche Strategien im Umgang mit Schuldgefühlen helfen können.

Schuldgefühle sind Bestandteil (fast) jedes Trauerprozesses

Die Erfahrungen, die mir meine Klient:innen in der Trauerbegleitung spiegeln, bestätigen die Ergebnisse meiner unfreiwilligen Selbststudien: Schuldgefühle sind Bestandteil (fast) jedes Trauerprozesses und werden von vielen Betroffenen als eine der belastendsten Facetten der Trauer empfunden. Dass sie derart verbreitet und hartnäckig sind, hat nicht zuletzt damit zu tun, dass sie selbst eine Art Bewältigungsstrategie darstellen, die sich im Verlauf der Trauer jedoch oft gegen uns richtet. Zu verstehen, welche Funktionen Schuldgefühle in der Trauer einnehmen können, kann hilfreiche Impulse zur Gestaltung der eigenen Bewältigung liefern. Die folgende Aufzählung ist nicht vollständig, aber hoffentlich hilfreich:

Welche Funktion haben Schuldgefühle? Hilfreiche Impulse zum besseren Verständnis:

  • Schuldgefühle simulieren Kontrolle

    Die Vorstellung, dass wir uns gegen Schicksalsschläge nur in geringem Maße absichern können, widerspricht unserem tiefen Bedürfnis nach Kontrolle. Durch die Beschäftigung mit unserer Schuld geben wir uns selbst das Gefühl, dass wir den Verlust aus eigener Kraft hätten verhindern können und auch zukünftiges Leid verhinderbar ist – wenn wir nur beim nächsten Mal alles richtig machen. Dabei erzeugen wir jedoch eine Schein-Sicherheit, die der Realität beim nächsten Ernstfall nicht standhalten wird. Niemand von uns ist kugelsicher, egal wie viel Mühe wir uns geben. Ein erster Schritt zur Entkräftung von Schuldgefühlen kann darin bestehen, sich der eigenen Verwundbarkeit bewusst zu werden und diese als unaufhebbaren Teil unserer Menschlichkeit anzunehmen, nicht als Versagen.

    • Schuldgefühle fordern uns auf, zu lernen

    Wenn uns ein einschneidender Verlust widerfährt, ist unsere Psyche redlich darum bemüht, uns vor zukünftigen Ereignissen dieser Art zu schützen. Dazu lässt sie uns in Gedanken vergangene Erlebnisse durchkämmen und nach unserem Beitrag zur Situation suchen, auch nach unseren vermeintlichen Fehlern. Vielleicht würden wir uns in einer ähnlichen Situation in Zukunft gerne anders entscheiden, anders reagieren oder eine andere Perspektive einnehmen können. Uns einzugestehen, dass wir in der Krisenzeit nicht jede Situation perfekt bewältigt haben – und das absolut menschlich ist – kann sehr befreiend sein. Die daraus folgenden Lehren herauszuarbeiten, ohne sich dabei in unfaire Selbstvorwürfe zu verstricken, ist jedoch eine große Herausforderung.

    • Schuldgefühle verbinden uns mit dem/der Verstorbenen

    In dem Moment, in dem wir von Schuldgefühlen überkommen werden, fühlen wir im Schmerz einen starken und lebendigen Zugang zu unserer Trauer. Dies kann so weit führen, dass Schuld für uns zu einem Instrument wird, uns selbst, unsere Trauer und die Verbindung zum/r Verstorbenen immer wieder zu bekräftigen. Speisen sich die Schuldgefühle zu einem Großteil aus diesem Wunsch nach Verbundenheit, ist es hilfreich, alternative Methoden zu finden, um mit der eigenen Trauer in Kontakt zu kommen. Wir verdienen es, eine emotionale Beziehung zum/r Verstorbenen zu führen, die nicht auf schmerzhafter Selbstgeißelung beruht.

    • Schuldgefühle überdecken die Angst vor der Zukunft

    Nach schweren Verlusten, Trennungen und Krisenzeiten stehen wir vor der Herausforderung, uns an die veränderten Lebensumstände anpassen zu müssen. Die Frage, wie es nun mit uns weitergehen kann, löst berechtigterweise Widerstand und Angst aus. Die Beschäftigung mit Schuldgefühlen bietet hier eine Art „Zwischenlösung“: Wenn wir uns geistig in der Vergangenheit aufhalten und uns mit unseren Versäumnissen beschäftigen, bleibt weniger Platz für Gedanken an die unangenehme Gegenwart und die unsichere Zukunft. Schuldgefühle repräsentieren unser schmerzhaft gewordenes Festhalten an der Vergangenheit. Sie lassen sich leichter endgültig auflösen, wenn wir beginnen, in der aktiven Auseinandersetzung mit der veränderten Situation unserer Unsicherheit zu begegnen.

    • Schuldgefühle sind ein stabilisierendes Muster

    Manche Menschen sind es seit früher Kindheit gewohnt, sich für alle Rückschläge und Negativität in ihrem Leben selbst die Schuld zu geben. Dieses eintrainierte Muster ist für die Betroffenen in vielen Lebenssituationen quälend, vermittelt aber dennoch ein Gefühl von Sicherheit und Vertrautheit – so hat man das Leben schließlich schon immer bewältigt. Wenn uns bewusst wird, dass wir nicht nur in der Trauer, sondern unter schweren generellen Schuldgefühlen leiden, kann es sich lohnen, dieses Thema mit professioneller Unterstützung zu bearbeiten. Allein die Einsicht, dass wir nicht an allem Schuld sind, sondern uns nur gewohnheitsbedingt an allem schuldig fühlen, kann eine versöhnlichere Perspektive schaffen.

    Schuldgefühle wachsen im Verborgenen und schrumpfen, wenn wir sie teilen

    Ganz gleich, welche Funktion Schuldgefühle in unserem individuellen Trauerprozess erfüllen, eine gemeinsame Grundregel im Umgang mit ihnen gilt in jedem Fall: Schuldgefühle wachsen im Verborgenen und schrumpfen, wenn wir sie teilen. Denn in der Begegnung mit anderen Menschen lernen wir, dass wir nicht die einzigen Menschen sind, die mit Schuld und Scham zu kämpfen haben. Dass wir nicht die einzigen sind, die zweifelhafte und bösartige Gedanken haben. Dass unsere Fehler und Versäumnisse uns nicht zu Versagern oder Monstern machen, sondern auch für andere nachvollziehbar sind. Und wenn wir für die „dunklen Geheimnisse“ anderer Menschen Verständnis aufbringen können, stellen wir schnell fest, dass auch unsere Schuld am Ende des Tages verzeihlich ist – falls sie überhaupt begründet war.

    Voraussetzung für die heilende Kraft des Teilens von Schuldgefühlen ist selbstverständlich, dass uns unser Gegenüber vertrauenswürdig, empathisch, respektvoll und ohne zu werten begegnet. Wer diese Kriterien erfüllt, dürfen wir selbst entscheiden. Wenn sich Schuldgefühle also wie der Untermieter aus der Hölle in unserem Leben eingenistet haben, werden wir ihn nicht los, indem wir ihn verstecken. Dadurch geben wir ihm nur die Gelegenheit, sich noch mehr auszubreiten und mit der Zeit immer angriffslustiger zu werden. Erst wenn wir uns erlauben, unseren unerwünschten Gast als Teil unseres eigenen Seelenlebens anzunehmen und in sicheren Räumen ans Licht zu holen, verliert er einen großen Teil seiner Bedrohlichkeit. Vielleicht mögen wir ihn eines Tages sogar ein bisschen leiden. Und freuen uns umso mehr, wenn er auf unbestimmte Zeit verreist.

    Über die Autorin

    Christina Wiesner
    UmWegGefährtin | Trauerbegleitung & Coaching

    Ich bin Christina, deine Begleiterin für die holprigen Abschnitte entlang des Lebensweges. Als Sozialpädagogin, Coach und Trauerbegleiterin stehe ich dir zur Seite.