Als die Koordinatorin eines ambulanten Kinderhospizes mich für die Begleitung einer alleinerziehenden, lebensbedrohlich erkrankten Mutter und ihrer neunjährigen Tochter angefragt hat, ahnte ich nicht, was da alles auf mich zukommt. Von dieser nicht ganz unkomplizierten Familiengeschichte, bei der die Patentante die Rolle der Mutter einnehmen sollte, möchte ich Euch gern erzählen. Hier zeigt sich noch einmal, wie wichtig und facettenreich unsere Aufgabe als Trauerbegleiter*innen ist und wie komplex die Themen im Familiensystem sein können.
Zum Schutz der Persönlichkeit der Beteiligten habe ich die Namen und weitere Details verändert.
Zur Trauerbegleitung gehört ganz viel Beziehungsarbeit
Zunächst möchte ich Euch kurz die Personen vorstellen, die ich während meiner Begleitung kennengelernt und miteinbezogen habe: Beate, 48 Jahre, hat die Diagnose Krebs im Endstadium erhalten. Die Lebenserwartung der alleinerziehenden Mutter beträgt maximal sechs Monate. Wer kann nach ihrem Tod für ihre Tochter Jil sorgen? 9 Jahre, keine Geschwister, Vater unbekannt.
Zum Familiensystem der erkrankten Mutter gehört ein Bruder, der in einer anderen Stadt lebt, beruflich stark engagiert ist, keine Partnerschaft und keine Kinder hat. Bruder und Schwester haben ein herausforderndes Verhältnis miteinander und leben in unterschiedlichen Welten. Der Bruder liebt seine Nichte, hat jedoch räumlich und emotional eine größere Distanz zu ihr.
Die Eltern der erkrankten Mutter leben am anderen Ende Deutschlands. Der Vater von Beate befindet sich selbst gerade in einer Chemotherapie und ist nicht reisefähig. Das Miteinander verläuft nicht immer reibungslos, es gibt aber einen sehr liebevollen Kontakt zu dem Enkelkind. Durch die Entfernung ist dieser zeitlich sehr eingeschränkt.
Nach der Krebsdiagnose: zwei Vollmachten zum Wohl des Kindes
Am Tag, als Beate die Diagnose und Prognose erhält, informiert sie alle Familienmitglieder und ihre beste Freundin Yvette. Ihrer Tochter Jil teilt sie lediglich mit, dass sie krank sei und dadurch vielleicht nicht mehr so viel mit ihr unternehmen kann. Freunde und Familie würden sie unterstützen.
Beate verfasste zwei Vollmachten. Eine Vollmacht richtete sich an ihren Bruder, der die komplette Versorgungsentscheidung sowie alle rechtlichen Dinge, die sie persönlich betreffen, übernehmen sollte.
Die zweite Vollmacht richtete sich an ihre beste Freundin Yvette, die gleichzeitig auch Patentante des Kindes ist, mit dem Wunsch, dass das Kind Jil nach dem Tod der Mutter bei ihr leben und aufwachsen kann, mit allen Rechten und Pflichten.
Beste Freundin ist engste Vertraute und zentrale Ansprechpartnerin
Beate und Yvette kennen sich über 20 Jahre. Es besteht eine sehr intensive Freundschaft zwischen den beiden Frauen. Nach der Krebsdiagnose ist Yvette der Dreh- und Angelpunkt in der gesamten Versorgung. Sie ist eingebunden in alle medizinischen Entscheidungen und unterstützt ihre Freundin in den Gesprächen mit den Ärzten. Auch übernimmt sie die gesamte Kommunikation mit allen An- und Zugehörigen. Sie übermittelt die Inhalte der Arztgespräche sowie die Wünsche von Beate zu weiteren Behandlungen. Beide teilen alle Sorgen und alle Ängste miteinander, aber auch viel Freude und gemeinsame Urlaube. Auch Jil hat eine enge Bindung zu ihrer Patentante.
Yvette selbst ist alleinerziehende Mutter eines erwachsenen Sohnes, der in einer anderen Stadt lebt und studiert. Yvette wohnt mit ihrem neuen Partner Tom zusammen. Tom hat zwei Kinder aus einer vorherigen Beziehung, die alle 14 Tage am Wochenende bei ihnen wohnen.
Meine Hauptaufgabe ist es, Yvette als Patentante und künftige „Mutter“ von Jil psychosozial zu begleiten, da alle Stränge bei ihr zusammenlaufen und sie die komplette Organisation, Kommunikation und Versorgung von Jil und Beate steuert.
Erst palliative Pflege zuhause, dann im Krankenhaus und schließlich im Hospiz
Zu Beginn meiner Begleitung wird Beate noch zu Hause versorgt. Im wöchentlichen Wechsel ziehen die Mutter von Beate und Yvette jeweils bei Beate und Jil ein. Zusätzliche Unterstützung gibt es von einem Palliativ-Pflegedienst. Beate erhält auf eigenen Wunsch weiterhin eine Chemotherapie.
Innerhalb von drei Wochen verschlechtert sich der Zustand extrem, Beate kommt auf die onkologische Abteilung eines Krankenhauses. Nach vier Tagen wird sie auf die Palliativstation verlegt. Jil lebt jetzt bei ihrer Patentante Yvette und deren Partner Tom.
Für alle Beteiligten sind die Stunden auf der Palliativstation nur schwer zu ertragen. Beate lehnt jede Form von psychosozialer Begleitung oder andere Gesprächsangebote ab. Sie baut zunehmend ab und ist durch Medikamente kaum noch ansprechbar.
Ihre neunjährige Tochter Jil hat Angst und zieht sich sehr in sich zurück. Auf Nachfrage von Yvette sagt sie, dass sie eigentlich nicht mehr zu ihrer Mutter ins Krankenhaus möchte. Um einen Abschied zu ermöglichen, nimmt Yvette Jil immer nur für kurze Zeiträume mit ins Krankenhaus.
Yvette wird zunehmend klarer, dass der nächste Schritt nur noch ein Hospizaufenthalt sein kann. Beate stimmt dem Vorschlag ihrer Freundin und den Ärzten zu, allerdings unter der Voraussetzung, dass sie weiterhin eine Chemotherapie erhalten kann. Der 10. Geburtstag von Jil steht an, er wird im Hospiz gefeiert. Mutter und Tochter fällt es sehr schwer, miteinander in Kontakt zu treten. Auch hier ist Yvette das Bindeglied zwischen den beiden und versucht für alle Beteiligte, den Tag so schön wie möglich zu gestalten.
Beate stirbt – was nun?!
Der monatelange Abschieds- und Klärungsprozess beeinträchtigt auch Yvettes seelische, körperliche Verfassung. Ihre Kraft nimmt stark ab. Sie hat einen Vollzeitjob im Schichtdienst abzuleisten. Ihr Partner Tom unterstützt sie so gut, er kann. Aber auch in der Beziehung der beiden hinterlässt die Verantwortung, die dauerhafte Anspannung und das Leben mit einem neuen „Familienmitglied“ große Spuren. Emotional sind alle nicht nur am Limit, sondern schon darüber hinaus.
Bereits nach drei Wochen im Hospiz wird erkennbar, dass die finale Phase beginnt. Die Familienangehörigen sprechen sich ab, dass ab jetzt jeder eine Nacht bei Beate verbringen wird. In der ersten Nacht übernimmt Yvette diese Aufgabe. In dieser Nacht verstirbt Beate in den Armen ihrer Freundin Yvette, die bei ihr mit im Bett liegt.
Yvette hat nun die Aufgabe, Jil mitzuteilen, dass ihre Mama verstorben ist und nicht mehr wiederkommt. Ein letztes Mal fährt Yvette mit Jil zu ihrer verstorbenen Mama ins Hospiz. Jil möchte an der offenen Tür stehen bleiben und sagt von hier aus Tschüss zu ihrer Mama.
Neue Rollen für alle Beteiligte – besonders für Jil und Yvette
Jil sucht ganz engen Kontakt zu Yvette, versteht langsam, dass diese nicht mehr nur die lustige Patentante ist, sondern eine neue Rolle einnimmt. Mit Yvette hat sie eine verständnis- und vertrauensvolle Person an ihrer Seite, die sie in ihrer Trauer begleitet. Dazu wurde über den ambulanten Kinderhospizdienst eine Musik- und Kunsttherapie organisiert. Sie geht wieder in ihre Schule und erlebt Spaß mit ihren Freundinnen und bei ihren Hobbys im Sportverein. Sie spielt mit den Tüchern, die ihre Mutter immer getragen hat. Sie kommt langsam an in ihrem neuen Alltag, der so anders ist, als der mit ihrer Mutter war. Es gibt mit Tom nun einen männlichen Part, den sie bisher nicht kannte. Es gibt zwei Geschwister, die alle 14 Tage einziehen. Somit ist das Familienleben wesentlich turbulenter, als sie es bisher allein mit ihrer Mutter erlebte. Sie genießt es, aber braucht auch immer wieder Zeit für sich und zieht sich zurück ohne sich abzukapseln. Sie erhält viel Liebe und Aufmerksamkeit. Die Ferien verbringt sie zum Teil bei Oma und Opa am anderen Ende von Deutschland. Und ab und an ist sie übers Wochenende bei ihrem Onkel.
Herausforderungen für Yvettes Partner und dessen Kinder
Yvette und Tom stehen vor einer völlig neuen Konstellation der Partnerschaft und somit vor einer Zukunft, die komplett anders ist, als sie sie geplant hatten. Tom hat sich klar für ein Leben mit Jil und Yvette entschieden und unterstützt Yvette zu 100 Prozent. Trotz alledem stellt es die Beziehung vor vielen Herausforderungen – auch mit Toms Kindern, die alle 14 Tage für ein Wochenende kommen. Wo bleibt Zeit für Zweisamkeit? Wohin mit unseren Träumen für die Zukunft? Wie bauen wir die Wohnung um? Wie stemmen wir die finanziellen Herausforderungen? Wie stellen wir die Betreuung in den Ferienzeiten sicher? Wie begegnen wir den familiären Besonderheiten mit Klarheit und Akzeptanz, auch gegenüber dem Bruder und den Großeltern von Jil? Wie bekommt jeder auch seine persönliche Zeit, um aufzutanken?
Es braucht Zeit zu trauern – trotz aller Dinge, die zu tun sind
Yvettes engste Vertraute, ihr Herzensmensch, ihre allerbeste Freundin ist tot. Sie fragt sich, ob sie der Aufgabe, die sich Beate von ihr gewünscht hat, gerecht werden kann. Sie kommt nie wieder! Das ist bei ihr noch nicht angekommen. Zeit zum Trauern gab es bisher für sie noch nicht. Sie erlebt bisher alles, als stünde sie hinter einer Nebelwand.
Es braucht Zeit, sich auf neue Konstellationen einzustellen
Beates Bruder, der noch nie allein Zeit mit seiner Nichte verbracht hat, lernt sich und Jil noch mal neu kennen. Seine Nichte ganz allein ein Wochenende zu betreuen, Angebote zu machen, Ablehnung zu erfahren, das Leben aus Kinderaugen zu sehen – alles neue Erfahrungen für beide.
Er fragt sich: Wie gehe ich mit meiner Trauer um? Meine Schwester lebt nicht mehr. Wie gehe ich damit um, dass meine Schwester klar entschieden hat, dass meine Nichte bei einer Freundin aufwächst? Auch wenn dies aus meiner Sicht die richtige Entscheidung ist, tut es weh, wie klar meine Schwester sich hier entschieden hat. Ein Leben mit Kind, für mich unvorstellbar und trotzdem spüre ich Eifersucht.
Es braucht Zeit, das eigene Leben neu auszurichten
Jils Oma und Opa am anderen Ende von Deutschland haben ihre Tochter verloren. Sie denken: Wir werden uns – so gut es geht – um unser Enkelkind kümmern. Sie sind dankbar, dass Yvette Beates Wunsch erfüllt hat – und dass Jil in einem Familiensystem aufwachsen kann. Trauern, ja, das tun die Großeltern aber ganz für sich allein. Ihre Aussagen: Wir brauchen niemanden als Unterstützung, wer kann uns dabei schon helfen? Und dann die Sorge der Großmutter um den eigenen Ehemann: Wie geht es nach seiner Chemotherapie weiter? Wird er der nächste sein? Die Gedanken der Großeltern finden kaum Ruhe, aber auch das machen sie mit sich allein aus.
Gemeinsam haben alle Beteiligten viel erreicht und große Schritte zurückgelegt, um für die mittlerweile zehnjährige Jil ein neues Familienleben aufzubauen und zu ermöglichen, dass sie eine wertvolle Zukunft vor sich hat, obwohl ihre Mutter verstorben ist!
Wie sieht meine psychosoziale Begleitung aus?
Zum einen biete ich Zeit, Raum und Unterstützung für Yvette, die sie sonst nirgends erhält. Es ist eine Mischung aus Trauer-Lebensbegleitung und Coaching, um nicht unterzugehen. Wir sortieren Themen, wir priorisieren, wir analysieren und wir finden Lösungen. Wir gehen in die Akzeptanz und Reflektion. Hinzu kommt der Wunsch von Yvette an mich, die Eltern und den Bruder mit an einen Tisch zu bringen, um die Zukunft gemeinsam zu gestalten und zu besprechen. Die Kommunikation untereinander ist sehr herausfordernd und schwierig. Wer hat welche Vorstellung? Wer übernimmt welche Verantwortung? Wer unterstützt finanziell? Wer übernimmt welche Betreuungszeiten, Urlaube und Wochenenden? Sind die Angebote verbindlich? Können wir uns darauf verlassen?
Ein weiterer Wunsch von Yvette ist, sie und Tom als Paar zu begleiten und Gespräche zu dritt zu führen. Die Herausforderungen sind vielseitig und die Erwartungen und Ansprüche aneinander sind komplex in dieser neuen Familienkonstellation.
Wer zahlt diese psychosoziale Begleitung für das gesamte Familiensystem und alle betroffenen Personen?
Um ehrlich zu sein, für diese Form der Begleitung findet keine finanzielle Unterstützung durch das Gesundheitssystem statt. Es besteht die Möglichkeit, eine psychotherapeutische Behandlung in Anspruch zu nehmen, die mit viel Glück frühestens in sechs, meistens erst in zwölf Monaten stattfinden kann. Es existiert bundesweit ein akuter Therapeuten- und Versorgungsmangel.
Nur durch die beherzte Unterstützung der Koordinatorin des ambulanten Kinderhospizdienstes wurden Spenden eingeworben, die Diakonie ist in Vorleistung getreten, um meine Arbeit zu bezahlen. Und auch ich habe meinen Stundensatz den Möglichkeiten angepasst und manche Stunden nicht abgerechnet. Ich möchte darauf aufmerksam machen, wie sehr wir professionell ausgebildete Trauerbegleiter*innen uns – oft auch ehrenamtlich – engagieren, um Menschen in Not beizustehen.
Ich hoffe sehr, dass sich in unserem Sozial- und Gesundheits-System etwas ändert, wenn wir die Notwendigkeit fachlicher Unterstützung in Krisenzeiten öffentlich machen. In Unternehmen werden die Kosten für Krisen- und Resilienz-Coachings doch auch oft übernommen.
Warum gibt es immer noch keinen „Topf“ für die fachliche Begleitung von Familien und Privatpersonen, die nach einem Schicksalsschlag dringend Unterstützung brauchen?
Über die Autorin
Julia Heisig
Coaching und Beratung für Menschen in Krisensituationen
Ich bin Julia Heisig und unterstütze Menschen in Krisensituationen. Bei meinen Coachings und psychosozialen Begleitungen ist es für mich wichtig, auf das gesamte Familiensystem zu schauen, um das gesamte System zu stärken und zu stützen.