
Vor acht Jahren begann alles mit einer naiven Faszination. Ich wollte verstehen, warum wir den Tod so eisern verschweigen. Warum bloß nicht zu laut, nicht zu direkt darüber reden? Ich habe gemerkt, dass ich keine Geduld mehr hatte für diese unbeholfene Stille, die Verlegenheit, wenn das Wort „Tod“ fiel. Als wäre das Ausweichen selbst ein Schutzschild gegen die Endlichkeit.
Ich wollte wissen, was passiert, wenn man hinsieht. Wenn man nachfragt
Als Filmemacher glaube ich daran, dass die Kamera ein Werkzeug ist, um Mauern einzureißen. Und so habe ich angefangen, mich mit den Themen Sterben, Trauern und Erinnern zu beschäftigen. In der festen Überzeugung, dass die Auseinandersetzung mit dem Sterben hilft, uns selbst und unser Dasein besser zu verstehen und den Tod ein bisschen weniger ängstlich und ein bisschen liebevoller zu betrachten.
Ich fing an, Zeit auf Friedhöfen zu verbringen, mit Menschen über ihre Endlichkeit zu sprechen und darüber, was der Verlust von geliebten Menschen mit ihnen gemacht hat. In solchen Momenten wird der Lärm der Welt plötzlich ganz leise und zwischen zwei Menschen entsteht ein zarter, echter Raum. Der Tod macht uns echt. Masken fallen. Wir sind ganz Mensch im Angesicht des Sterbens, das uns alle verbindet. Offen über das Unausweichliche zu sprechen, lässt uns den Wert und die Einzigartigkeit unseres Lebens erkennen.
2020 drehte ich den Dokumentarfilm „Alleingang“ über das einsame Sterben in Berlin. Bestatter Bernd Simon als letzter Wegbegleiter für all die Unsichtbaren. Fast 10 Prozent aller Berliner*innen werden von ihm auf dem Alten Domfriedhof St. Hedwig bestattet. Über 2500 Menschen. Jedes Jahr. Der Film endet nicht mit dem Abspann. Er fängt da erst richtig an. Er fordert uns alle auf, uns zu fragen: Wie blicken wir auf unser eigenes Ende? Was sagt es über unsere Gesellschaft aus, dass alle 45 Minuten ein Mensch bestattet wird, von dem wir kaum etwas wissen?
Das Medium Film kann Gespräche anstoßen, den Blick schärfen, ein Störgefühl erzeugen, Impulse für Wandel setzen – nicht nur auf der kognitiven, sondern gerade auch auf der emotionalen und unbewussten Ebene
Es öffnet sich ein Raum der Begegnung mit uns selbst. Ein Raum, in dem wir echt sein dürfen mit unseren Erinnerungen, Sehnsüchten, Enttäuschungen und Hoffnungen. Genau das ist das große Potential des Mediums: Es lädt uns ein, uns selbst und einander in der Tiefe unserer Verletzlichkeit zu begegnen. Ein paar Jahre später starb meine Mutter. Viel zu früh. Der Abschied hat mein Leben aus der Bahn geworfen. Es war die vielleicht größte Krise meines Erwachsenenlebens. Aber ihr wohnte auch eine Schönheit inne, gerade wegen dieser Echtheit, die einer Begegnung im Angesicht des Endes innewohnt. Wieder griff ich zur Kamera. Ich wollte festhalten, was uns da geschieht. Die Kamera gab mir Halt, sie half zu verstehen, sie schaffte einen Rahmen.
Ich bin überzeugt, dass wir intime, persönliche Geschichten über das Sterben brauchen
Aktuell arbeite ich an einem Kinofilm über den Abschied von meiner Mutter. Wir brauchen eine Normalisierung der Bilder, der Themen, der vielfältigen und widersprüchlichen Emotionen, die mit dem Tod verbunden sind.
Was vor acht Jahren mit einer naiven Faszination begann, wurde zu einem Thema, das mich nicht mehr losließ. Ich machte eine Ausbildung als ehrenamtlicher Sterbebegleiter bei einem Berliner Hospizdienst. Seitdem begleite ich Menschen am Lebensende. Und ich bin überzeugt: Film kann in dieser besonderen Lebensphase eine wichtige Stütze sein. Film kann helfen, loszulassen. Und Film kann einen Anker der Erinnerung bieten.
Film schafft Raum für Begegnung. Zwischen Gehenden und Bleibenden, zwischen Vergangenheit und Zukunft
Ich habe gesehen, wie Menschen sich im Angesicht der Kamera öffnen – nicht für die Show, sondern weil sie spüren, dass es jetzt darauf ankommt. Und ich habe gesehen, wie Zugehörige dankbar dafür sind. Nicht, weil es den Verlust kleiner macht. Sondern weil es ihm einen Ort gibt.
Immer mehr Menschen suchen nach anderen Formen des Abschiednehmens, nach Ausdrucksmöglichkeiten, die tiefer greifen als Blumengestecke und schwarze Kleidung. Der Tod tritt aus der stummen Ecke heraus – leise, tastend, vorsichtig – und wird zum Thema, das in unserer Gesellschaft langsam wieder Sprache finden darf. Zusammen mit meiner Filmproduktionsfirma panther reh will ich das Medium Film als Werkzeug in der Sterbe- und Trauerbegleitung erforschen und etablieren. Dafür haben wir ganz unterschiedliche Formate entwickelt – vom kurzen Erinnerungsfilm bis zum ausführlichen Interview.
Immer geht es darum, Stimmen hörbar, Geschichten sichtbar und Erinnerungen lebendig zu machen. Als Einladung, miteinander zu sprechen – und der Sprach- und Hilflosigkeit im Angesicht des Endes etwas entgegenzusetzen
Ich glaube nicht, dass Film den Tod leichter macht. Er nimmt die Härte nicht weg. Aber er kann helfen, sie auszuhalten. Er kann helfen, den Raum zwischen Lebenden und Toten zu überbrücken. Und er kann Gespräche ermöglichen, die wir sonst zu vermeiden versuchen.
Über den Autor

Raphael Schanz
Erinnerungsfilm I panther reh
Ich bin Raphael Schanz, als Dokumentarfilmregisseur setze ich mich mit den Themen Tod und Trauer auseinander. In meinem Film Alleingang geht es um das einsame Sterben in Berlin. Aktuell arbeite ich an einem persönlichen Film…